Der Prozess - Das Festival "Polski transfer" in Dresden Hellerau endet mit Krystian Lupas politischer Deutung des Kafka-Fragments
Rätsel einer Anklage
von Michael Bartsch
Dresden, 1. Dezember 2018. Verblüfft betritt man zum Finale des Festivals "Polski Transfer" den großen Saal des Festspielhauses Hellerau. Von der kargen Schönheit dieses viel gepriesenen Raumes, von der rhythmischen Kubatur ist nichts mehr zu entdecken. Wo in den beiden Jahren kurz vor dem 1. Weltkrieg der Bühnenpionier Adolphe Appia die Trennung zwischen Publikum und Akteuren verwischte, beginnt unmittelbar vor den Zuschauern nun eine Guckkastenbühne. Eine rot leuchtende Begrenzungslinie, die Linie der Freiheit, betont diesen Rahmen auch noch. Statt des sonst zu Abstraktion und Reduktion einladenden Saales bestimmen Kulissen eines schäbigen Flurs die Szene, Flure der Pension, in der sich Josef K. in Franz Kafkas "Der Prozess" eingemietet hat.
Das Zimmer seiner Nachbarin Fräulein Bürstner tritt nach Illumination hinter der Gaze-Rückwand hervor. Mit wenigen Requisiten wird die Bühne auch zum Gerichtssaal oder Krankenzimmer umgestaltet. Eine geschickte Videoprojektion suggeriert die Gewölbe des Domes. Über alle Wandlungen des Rahmens hinweg aber dominieren Düsternis und zuweilen zeitlupenhafte Langsamkeit, die nur durch wenige Eruptionen unterbrochen wird. Keine Minute der mehr als vier Stunden Spielzeit aber erzeugt Langeweile. Jede noch so kleine Bewegung ist symbolisch aufgeladen. Über allem schwebt das dunkle Rätsel einer Anklage, die zur Selbstanklage mutiert, jene absurde Magie, die sprichwörtlich als "kafkaesk" bezeichnet wird.
Mit diesem Attribut hatte am Nachmittag vor der Deutschlandpremiere auch der Historiker Peter Oliver Loew die Verhältnisse in Polen in einem Vortrag bezeichnet. Kafkas Roman lässt einen profillosen Bankangestellten, einen Jedermann in die Fänge eines anonymen, undurchschaubaren Apparats geraten. "Der Prozess selbst strebt auch nicht nach Wahrheit, sondern nach der Auslöschung und Zerstörung des Individuums", sagt Regisseur Krystian Lupa in einem Interview, das das Hellerau-Magazin nachdruckte.
Die Analogien zu Tendenzen in Polen seit der Machtübernahme durch die PIS-Partei inspirierten Lupa zur Bühnenadaption des Kafka-Klassikers. Die Geschichte dieser Inszenierung selbst spiegelt die Verhältnisse. Die 2016 begonnenen Proben in Wrowclaw konnten nach einem von der nationalistischen und stockkonservativen Regierung durchgesetzten Intendantenwechsel nicht fortgesetzt werden. Erst die Hilfe mehrerer Warschauer und europäischer Bühnen ermöglichte im Herbst 2017 eine Uraufführung am Nowy Teatr Warschau. In Dresden-Hellerau krönte "Der Prozess" am Wochenende das zehntägige Festival "Polski transfer" mit aktuellen Produktionen aus dem aufgewühlten Land.
Der Angeklagte klagt an
Der Kulturkampf dort spielt ständig in diese meisterhafte Inszenierung hinein. Was sich anfangs nur andeutet, wenn K. und die Vermieterin eine Talkshow im Fernsehen schauen, gerät bei der großen Apologie des K. im Gerichtssaal zum Fanal. Lupa geht hier am deutlichsten über den Originaltext hinaus. Josef K. klagt den "öffentlichen Missstand" an, ein aufgezwungenes "System ohne Werte", die "schäbige Show gegen Schwache". Der Richter wiederum verachtet den "Abschaum". Gebrochen wird auch dieser Auftritt in der Tradition des polnischen absurden Theaters seit Mrozek oder Gombromwicz durch den Auftritt des Hauptdarstellers in Frack und Pudelmütze und durch skurrile Gestalten im Gerichtssaal, die an Figuren aus Fellini-Filmen erinnern.
Die Rollenbesetzungen wechseln bei jeder Aufführung. Am Samstagabend vollbringt der lang aufgeschossene, hagere Andrzej Kłak als Darsteller des Josef K. nicht nur wegen der immensen Textfülle Außerordentliches. Er und das gesamte Ensemble halten die düstere Spannung bis in die Nuancen dieses ursprünglich siebenstündigen Bühnenwerkes. Zu dieser Spannung trägt auch der Kunstgriff der Regie bei, das Geschehen durch eine murmelnde Gedankenstimme zu kommentieren. Dieses alter ego spricht den Text hinter dem Text auf Deutsch.
An Drastik fehlt es nicht, zumal Regisseur Lupa auf die bei Kafka angedeuteten erotischen Untergründe setzt. Die zahlreichen Entblößungen wirken nicht immer schlüssig. Auf jeden Fall aber gegen Ende, wenn der widerstandslose K. nackt auf dem bloßen Bettgestell hingestreckt liegt oder in der Kirchenbank kauert. Zuvor schon klangen Passion, ja Kreuzigung an. K. stellvertretend für alle, "die zur Vernichtung bestimmt sind". Ein symbolisches Opfer im Kampf "Wir" gegen "Sie".
Gegen Ende verschmelzen die Romanfigur Josef K. und Autor Franz K. immer mehr. Historischen Gestalten wie seine ewige Verlobte Felice Bauer oder Verleger Max Brod tauchen auf. Die langen Reflexionen über eine heillose Welt und ihre unmögliche Rettung könnten auch in einem Schlafsaal eines der zahlreichen Sanatorien spielen, die der Tbc-kranke Kafka aufsuchen musste. Der ebenso beklemmende wie grandiose Theaterabend in Hellerau wurde nur dadurch getrübt, dass lediglich ein halbvoller Saal langen und dankbaren Applaus spendete.
Der Prozess
nach Franz Kafka
Gastspiel einer Produktion des "Nowy Teatr" Warschau zum Festival "Polski transfer" Hellerau
Auf Polnisch und Deutsch mit deutschen Übertiteln
Regie, Adaption, Szenografie und Licht: Krystian Lupa, Video und Beleuchtung: Bartosz Nakalek.
Mit: Bozena Baranowska, Maciej Charyton, Malgorzata Gorol, Anna Ilczuk, Mikolaj Jodlinkski, Andrzej Klak, Dariusz Maj, Michal Opalinksi, Marcin Pempus, Halina Rasiakowna, Piotr Skiba, Ewa Skibinska, Adam Szczyszczaj, Andrzej Szeremeta, Wojciech Ziemianski, Marta Zieba, Ewelina Zak.
Gastspiel am 1. Dezember 2018.
Dauer: 5 Stunden, zwei Pausen
www.hellerau.org
Mehr über Krystian Lupa: Wir berichteten im Theaterbrief aus Polen, wie er beim 7. Internationalen Theaterfestival "Boska Comedia" im Dezember 2014 in Krakau herausragte und bewies, warum er als wichtigster und einflussreichster polnischer Regisseur gilt.
Kritikenrundschau
Andreas Herrmann schreibt in den Dresdner Neuesten Nachrichten (4.12.2018): Die Dauer der "bildkräftigen" Aufführung sei eine Zumutung. Doch die "Faszination der Theatersprache", die sich in ein "unglaubliches Bühnenbild mit diversen wandelbaren Projektionen fügt und immer wieder mit überraschenden Live- oder eingespielten Filmen überrascht", sei "gewaltig". Der Regisseur treibe seine 17 Darsteller "ohne jedwede Doppelbesetzung, viele mit reichhaltigen Erfahrungen und großer stimmlicher wie körperlicher Präsenz gesegnet", zu extremen Leistungen.
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