Reich des Todes - Düsseldorfer Schauspielhaus
Die bösen Geister des Westens
Von Andreas Wilink
Düsseldorf, 23. September 2021. "Si vis vitam, para mortem." Im Angesicht des Ersten Weltkriegs hat Sigmund Freud den altrömischen Sinnspruch "Si vis pacem, para bellum" (Wenn Du den Frieden erhalten willst, rüste zum Kriege) umgewandelt. Nun lautet er: Wenn Du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein. Auch aus der Erfahrung der Katastrophe des Weltenbrands formulierte er die Theorie des Todestriebs. Der gebärdet sich, wenn seine regressive Tendenz sich nach außen richtet, als zerstörerischer Machtwillen. So erbaut sich ein von Dämonen bevölkertes Reich des Todes.
Das Territorium des Todes erweitert sich
Unsere akute Gegenwart geriet in die Zeitschleuder, seit "Reich des Todes" im Herbst 2020 uraufgeführt wurde. Als Spätfolge der durch "Gotteskrieger" neutralisierten Twin Towers erleben wir das von den Taliban im Handstreich genommene Afghanistan, wo das Desaster des Westens, seine Selbsttäuschung über die Wirklichkeit und der Ruin behaupteter moralischer Überlegenheit emblematisch wurden.
Diese Zäsur würde womöglich Rainald Goetz interessieren. Das "Reich des Todes" hätte sein Territorium erweitert, das der Autor ohnehin zum Allerwelts-Gebiet erklärt, in dem die Protagonisten deutsche Namen in verzerrt welthistorischer und preußischer Genealogie tragen. Um ein Kapitel angewachsen ist seine Kritik der Urteilskraft von demokratischen Staatswesen, Verfassungsbruch, institutionellem Bankrott und dysfunktionalen Beraterstäben, die weder souverän sind was den Normal- noch den Ausnahmezustand betrifft. Sie erörtern die "Morgenlage", aber vergehen sich am Tag, vergeben robuste Mandate, legitimieren Folter und delegitimieren sich selbst.
"In die Netze gegangen, gefangen im www" beziehungsweise in Olaf Altmanns Bühnenbild © Thomas Rabsch
Karin Beiers Uraufführung des Dramas über den 11. September, Abu Ghraib und die US-Regierung unter George W. Bush und Dick Cheney war ein wüster Tanz, eine grelle, böse Revue-Satire, als sei Goya von der amerikanischen Unterhaltungsindustrie engagiert worden. Stefan Bachmann, der Goetz' "Jeff Koons" 1999 an gleicher Stelle, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, uraufgeführt hatte (übrigens mit seinem jetzigen Düsseldorfer Intendanten-Kollegen Wilfried Schulz als Dramaturg), musste pandemiebedingt hintanstehen. Nun ist er da. Und wie!
Hirn-Rave!
Ist es nicht so, dass die Erniedrigung der Twin Towers mit der Erniedrigung Gefangener durch die absolute Macht ausübenden Gefangenenwärter beantwortet wurde? Goetz, der rationalen Wahnsinn in Reflexions-Irrlichtern scharf stellt, indem er ebenfalls das Gift des Idealismus wie des Zynismus verabreicht, entwirft in dem Stück ein wahrlich minoisches Assoziations-, Zitat- und Verweis-Labyrinth. Wie sich darin nicht verlaufen! Indem man es als Konstrukt und Texttheorie offen- und als Hirn-Rave anlegt.
Nach preziösem Beginn in Rokoko-Roben, der die Walzer-Vorgabe ignoriert, geben die Bühnenmusiker einen Rhythmus vor, der das einzelne Wort schluckt und als Scat ausspuckt. Der Goetz-Sound lässt uns schon kapieren. Die Taktung macht's, der Sinn bekommt Impulse und kommt hinterher. Das ist näher dran am Autor als das Repetieren Buchstabe für Buchstabe.
Cathleen Baumann und Sophia Burtscher in Rokoko-Roben © Thomas Rabsch
Eine für alle: Die Choreografie der Silben exekutiert Rosa Enskat als Präsident Grotten – ein anderer Arturo Ui – brillant wie auf einer eigenen Stimm-Tastatur. Die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft zeigt sich, wenn Enskat / Grotten danach als geschundener Häftling am Boden kriecht. Später verwandelt sie sich für einen Opfer-Monolog in eine Kafka-Kreatur, um dann als Pop-Prothese Lynn Andersons Song "Rose Garden" zu zelebrieren.
Olaf Altmanns farblich changierendes Gitterwerk strukturiert als Koordinatensystem die Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses: ins Netz gegangen, im www gefangen. Der künstliche Charakter der Figuren in Regierung, Militär, Gefangenenlager wird durch die Kleiderordnung herausgestrichen. Sie stolzieren im Rokoko-Karneval, tragen breitgestreiften Diplomaten-Look, soldatische Tarnkluft und die schwarze Gummi-und-Leder-Optik von SS-Schergen – begründbar mit der Rückbindung von Goetz’ Text an die Unrechts-Justiz und das Mordregime der NS-Diktatur, ihre geistigen Befeuerer und den Untergang im Führerbunker.
Größte produktive Zumutung
Das Ensemble von sieben Darstellerinnen hebt die "typische" Rollenzuteilung wirkmächtig auf. Dem auch von Pasolini her geläufigen Steigerungs-Aspekt von Sexualität als Gewalttakt und Verfügbar-Machen und wie sich dabei die Opfer-Täter-Relation nach Geschlecht sortiert, wird ein Strich durch die zu einfache Rechnung gemacht. Das ist ebenso "skandalös" wie der Terror von Brutalität und Angst, der sich hier in frommer Litanei und religiöser Ekstase outet.
Cathleen Baumann, Ines Marie Westernströer, Sabine Waibel und Sophia Burtscher im Reich des Todes © Thomas Rabsch
Bachmann und seine Schauspielerinnen erzählen dringlich eine muntere Finster-Moritat. "Reich des Todes" ist bei ihnen Exorzismus der bösen Geister des Westens und deutschen Wesens, ist auch eine Passion, wenn in einer inszenierten Ruhepause die Gequälten – beschützt von Dezenz – zu reden beginnen, ist ein Requiem, zu dem Mozarts Totenmesse verfremdet erklingt.
Der Extrem-Epilog strapaziert mit Melanie Kretschmanns 20-minütiger Solo-Suada: Goetz' Künstler-Traktat über ALLES, gallig, erbarmungslos mit sich und jedem, kulturpessimistisch, hochreflektiert. Als Darbietung ist es die größte produktive Zumutung im Düsseldorfer Schauspielhaus seit Einar Schleefs "Salome".
Reich des Todes
von Rainald Goetz
Regie: Stefan Bachmann, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes, Musik: Sven Kaiser, Choreografie: Sabina Perry, Dramaturgie: Beate Heine, Robert Koall, Live-Musik: Leo Henrichs, Sven Kaiser, Zuzana Leharová, Annette Maye.
Mit: Cathleen Baumann, Sophia Burtscher, Rosa Enskat, Claudia Hübbecker, Melanie Kretschmann, Sabine Waibel, Ines Marie Westernstöer.
Premiere am 23. September 2021
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.dhaus.de
Das "Prinzip des Textes und von Bachmanns Produktion ist das der Überwältigung", schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (25.9.2021). "Eine gezielte Überforderung des Zuschauers durch Sprache, Lärm und Unberechenbarkeit. Bis zum Schlussmonolog, dessen Ende man herbeisehnt und dem man den Applaus nicht versagen kann."
Goetz' Text ist "ein verzweifelter Wortausbruch, eine Klage über die Unmenschlichkeit. Eine Zumutung für die Bühne. Und eine Analyse auch für die Gegenwart", schreibt Dorothee Krings in der Rheinischen Post (24.9.2021). Stefan Bachmann "versucht die manischen Textflächen dieses Stücks verstehbar zu machen, indem er den Rhythmus der Sprache hervorhebt". Seine Schauspielerinnen müssen "in den zerschnittenen Räumen des Fadenbühnenbilds zu Spiel und Ausdruck finden und sich zugleich dem Takt der Sprache fügen. Sie tun das virtuos, mit hohem Tempo"; zugleich "bleibt der Abend trotz ihrer Anstrengungen eine Herausforderung".
Dieser "darf sich in die Reihe der großen Abende des Düsseldorfer Schauspielhauses stellen. Ein Erlebnis, ein Bruch, eine Überforderung." So feiert Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (25.9.2021) Stefan Bachmanns Ausflug in die benachbarte Rhein-Metropole. Bachmann stürze sich "in den Fluss des Textes", biete das "Drama als Sprechoper". Der finale Monolog von Melanie Kretschmann ist für den Kritiker "der formsprengende Abschluss eines formstrengen Abends".
"Ein Wutautor boxt sich frei, ohne Rücksicht auf Leser oder Zuschauer. Ein Regisseur brilliert, indem er streckenweise daraus Kunst macht", schreibt Michael-Georg Müller in der Westdeutschen Zeitung (25.9.2021). "Ein intensives Erlebnis beschert Stefan Bachmann – weil er die grausamen Taten mit Elektropop kontrastiert und auf das Einspielen von Video-Material verzichtet. Goetz‘ bedrohliche Sprachgewalt gelangt dadurch ungefiltert zum Zuschauer, der sich alles andere als bequem zurücklehnen kann." Die "sieben extrem wandlungsfähigen Schauspielerinnen" brachten Goetz "inhaltsstarken und virtuosen, in Strecken aber unaufführbaren Text in erträgliche Bühnen-Form".
Laut Patrick Bahners von der FAZ (27.9.2021) stellt sich Goetz in die Tradition von Peter Weiss und dessen Stück "Die Ermittlung". "Wo aber Weiss Drama und Gerichtsprotokoll fusionierte, indem er in kondensierter Form die Mitschrift herstellte, die in der deutschen Strafprozessordnung nicht vorgesehen ist, da reißt Goetz mit einem nachgereichten Machtspruch das Höllendrama wieder in Stücke." Und weiter: "Wo der Text von Weiss meist in einer Lesung fast ohne szenische Staffage dargeboten wird, ist 'Reich des Todes' ein Nachlesedrama: Das montierte Sprachmaterial ist wohlbekannt, sozusagen weltgerichtsnotorisch. Bachmann nimmt es als musikalischen Rohstoff, lässt den Kriegsrat seine Punktationen wie Scat-Ketten abspulen. Die Unheilsgeschichte liefert in dieser Fassung ein Oratorium im Sinne einer abwechslungsreichen Folge böser Ohrwürmer."
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Diese nahezu physisch schmerzhafte Endperformance, die der Schauspielerin Melanie Kretschmann wie dem Publikum gleichermaßen viel abverlangt, ist der angemessene Höhe- und Endpunkt eines Dramas, in dem viel von Folter die Rede ist. 9/11 und Abu Ghraib bilden den historischen Hintergrund des Stücks, mit dem Rainald Goetz sich 2020 nach langer Absenz zurückmeldete.
Allerdings ist die Belehrung am Schluss überflüssig, wenngleich schauspielerisch sehr gut dargebracht.
Wenn man sich mit der Materie des Stücks etwas befasst hat, sollten die zwei Stunden vor der Schlussbelehrung reichen, um die Aussagen des Autors zu verstehen, zumal es keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte dazu gab. Es war im Wesentlichen eine Aufzählung bekannter Tatsachen.
Daher sollten sich Autor und Regie mal hinterfragen, warum diese Belehrung nötig war und es ihnen nicht gelungen ist in den zwei Stunden davor ihre Punkte klarer zu formulieren.
Als Zuschauer fühle ich mich bei solchen Vorträgen nicht ernst genommen.
Götz ist nicht Jelinek und Bachmann steckt in den 2000. Ich erkenne keinen Sinn dieser Übung.
Und ja, ich wurde nicht enttäuscht. Ein geniales Spiel von den Schauspielerinnen, ein minimales Bühnenbild und sehr viele, eindrucksvolle Momente, spickten das Stück.
Und ja, ich muss zugeben, zwischendrin war ich kurz davor, laut loszulachen.
Nein, ich bin nicht abgestumpft, sondern realistisch. Der Mensch ist, wenn man ihn lässt, böse und genießt es. Der Mensch verschließt zu gerne die Augen vor allem, was er nicht sehen oder wissen will. Und hinterher will keiner was gesehen, gehört oder auch nur gewußt haben, obwohl die Bilder eine andere Sprache sprechen.
Sozialkritik der besonderen Art, nicht für schwache Nerven geeignet, denn eingelullt wird man bei diesem Stück bei Leibe nicht.
Hart, böse, pointiert, für mich eines der besten Stücke, das ich je besucht habe. Ich bin schwer beeindruckt und total happy, dass ich mir dieses Stück nicht habe entgehen lassen.
Mit klug gesetzten Strichen führt Bachmann durch den Goetz-Text: von der Perspektive der Schreibtisch-Täter, die die rechtlichen Winkelzüge ausheckten, mit denen Folterverbot und weitere Normen des humanitären Völkerrechts ausgehebelt werden, wechselt er zur Perspektive der Täter*innen um Lynndie England, deren sadististisches Grinsen auf den Abu Ghraib-Fotos um die Welt ging. In der stärksten Passage des Abends zoomt die Inszenierung auf die Perspektive der Opfer. Das Grauen wird hier nicht aus- oder szenisch nachgestellt, in den beklemmenden Reflexionen jedoch sehr deutlich. Die gesamte Inszenierung ist deutlich zurückgenommener, weniger revuehaft und explizit als die Hamburger Uraufführung.
Überfrachtet wird der knapp 2,5stündige Abend durch das stakkatoartige, das Publikum stark fordernde Solo, mit dem Melanie Kretschmann den Abend beendet. Hier entschied sich Karin Beier mit einem orchestralen Klanggewitter ihres Ensembles für die eindrucksvollere Lösung.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2022/02/20/reich-des-todes-schauspiel-koln-schauspielhaus-dusseldorf-kritik/