Jessica, 30 - Alex. Riener inszeniert Marlene Streeruwitz' Großmonolog in Wien
Masse und Macht
von Kai Krösche
Wien, 4. April 2011. "Jessica, 30": Das klingt nicht gerade nach einer Ausnahme – und das ist sie auch nicht. Jessica, 30, nämlich ist eine typische Vertreterin ihrer Generation: Vielbeschäftigt, aber unterbezahlt, zerrissen zwischen TV-Serien-geprägten Vorstellungen eines "zeitgenössischen" Liebeslebens und feministischen Theorien über weibliche Sexualität, lebt sie als freie Autorin für eine österreichische Frauenzeitschrift ihr Single-Dasein. Bis ihre Beziehung zu einem bedeutenden Politiker mit sadomasochistischen Vorlieben (die offenbar die Grenze zum Legalen überschreiten) bei ihr ein Umdenken provoziert: Jessica entschließt sich, die Geschichte publik zu machen und so die Affäre zur Staatsaffäre auszuweiten.
Vierzehn für 20 Quadrat
Marlene Streeruwitz' Text funktioniert dabei in Form eines inneren Monologs mit all seinen widersprüchlichen Gedankengängen. Spannend ist hier vor allem, der Motivation der Protagonistin zu folgen, die selbst immer wieder über ihre Beweggründe reflektiert, den Politiker schlussendlich zu verraten: Ist es persönliche Betroffenheit oder ein übergeordneter Gerechtigkeitssinn, der sie zu ihrer Entscheidung treibt? Ist es vielleicht beides? Durch die Nichtbeantwortung dieser Widersprüche lotet "Jessica, 30" die Mechanismen hinter persönlichen (und letztlich politischen) Entscheidungen aus; das funktioniert als Text in Form eines Gedankenstroms natürlich gut – als Übersetzung in ein Theaterstück hingegen muss es sich zunächst einmal gegen die Eigenheiten und Anforderungen des Mediums Bühne behaupten.
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Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Regisseurin Alex. Riener sich mit ihrer Inszenierung gewissermaßen gegen die enge Spielstätte Bar&Co im Theater Drachengasse aufzulehnen versucht hat – anders lässt sich kaum die Entscheidung erklären, auf einer Bühne von 4x5 Metern über große Strecken des Abends gleich vierzehn Darstellerinnen gleichzeitig agieren zu lassen. Der Grund für die inszenatorische Entscheidung liegt in der besagten Repräsentativität der Titelheldin als Stellvertreterin einer Generation. Tritt entsprechend das Kollektivspiel an die Stelle der Psychologisierung? Gelingt der Versuch, mittels inszenatorischer Abstrahierung des Einzelfalls zu einer generellen Erkenntnis zu gelangen? Nur bedingt.
Der Chor schweigt und joggt
Denn dafür ist ein Großteil des Massenspiels auf der Bühne zu viel Bebilderung, fehlen die spannenden Momente einer Interaktion zwischen den zu vielen Darstellerinnen (letztlich sprechen doch nur drei der vierzehn Akteurinnen – zwei davon als die Titelheldin Jessica, eine wiederum als deren Mutter). Gleichzeitig ergibt sich aber ebenso keine tiefgreifendere Erkenntnis aus der Isolation der einzelnen Frauen: So bietet ihr ständiger, über weite Strecken stummer Auftritt (einmal übernehmen sie im Chor – in seiner Symbolik zwar eher zweifelhaft, aber wenigstens nicht unspannend – die wörtliche Rede eines Mannes) wenig mehr als im besten Fall untermalende, im ungünstigeren Fall ablenkende Unterhaltung: Joggen, Laufsteg-Auftritte und Stewardess-Gesten, Situationen also, bei denen das (hier weibliche) Individuum hinter seiner Äußerlichkeit, seinem Körper zu verschwinden droht, sind zwar in dieser Inszenierung gut choreographiert, letztlich in ihrer wenig Neues hervorbringenden Ästhetik aber unterm Strich banal und damit überflüssig.
Und selbst wenn sie das nicht wären, so wären sie doch der aufmerksamen Rezeption des ständigen und, so gut er auch gesprochen ist, ermüdenden Textflusses eher abträglich: Streeruwitz' Text merkt man nämlich bei allen Versuchen, ihm etwas Dramatisches abzugewinnen, am Ende doch an, dass er ursprünglich ein Roman war. Innerer Monolog folgt auf inneren Monolog. Auf Pausen, auf Augenblicke der Stille hofft man vergebens. Zusammen mit der überfüllten Bühne ergibt das unterm Strich eher eine 75 Minuten lange Konzentrationsprobe als einen Theaterabend, der einem neue, vielleicht ungeahnte Erkenntnisse bringt.
Das ist schade, weil trotz allem zumindest das Potential zu Größerem, Spannenderem spürbar wird. An diesem Abend aber, an dieser für das Projekt viel zu engen Spielstätte, wollten Regiekonzept, Aufführungssituation und Text weder zusammenpassen noch sich auf produktive Weise aneinander reiben.
Jessica, 30
von Marlene Streeruwitz
Regie: Alex. Riener, Bühne: Stefanie Just, Otto Girsch, Kostüme: Sabine Ebner, Dramaturgie: Eva Waibel, Körperarbeit: Caroline Decker
Mit: Anna Morawetz, Karola Niederhuber, Stefanie Philipps und Ensemble: Christina Berzaczy, Aurelia Burckhardt, Brigitte Deutsch, Claudia Grevsmühl, Ingeborg Mammerler, Heike Metz, Andrea Nitsche, Sophie Resch, Veronika Schmidinger, Anja Waldherr, Andrea Winter.
www.drachengasse.at
"Mag auch die Problematisierung der 'Generation Praktikum' theoretisch nicht mehr so taufrisch wirken, die Darstellung der intimen Zuckungen nach dieser 'Behandlung' ist es allemal", zeigt sich Ina Freudenschuß auf Standard.at (5.4.2011) von dieser Bühnenadaption des Streeruwitz-Romans "Jessica, 30" überzeugt. "Dass diese Jessica ein Symbolbild für eine ganze Generation ist, die sich jahrelang mit Praktikas und befristeten Aufträgen mehr unter als über Wasser hält, verdeutlicht die Bühnenfassung auf bestechende Weise.“ Durch das Joggen der Akteurinnen werde die "Atemlosigkeit, die dieser Text ja bereits im Roman verströmt" noch "verstärkt".
"Regisseurin Alex. Riener setzte die Bühnenvorlage von Streeruwitz’ Roman detailgetreu und gekonnt um", schreibt Ina Weber in ihrer Kurzkritik in der Wiener Zeitung (6.4.2011). Mit 13 Frauen zeige Riener, dass "Jessica für eine Generation von Frauen steht, die überqualifiziert und unterbezahlt sind". Mit einem Plastiksack über dem Kopf ende das Stück: "'Es reicht nicht', so sehr sie sich auch abstrampeln."
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ein gewöhnliches leben in atem-losigkeit.
überqualifiziert und unterbezahlt.
es reicht nie, so sehr wir uns auch abstrampeln.
haben wir noch zeit den menschen von innen zu sehen?
von tv-serien geprägte vorstellungen, und femministische Theorien
über weibliche sexualität.
wie - und am ende einen plastik-sack über den kopf?
nein.
dann lieber zur erbauung, wenn uns zeit dafür bleibt, und die müdigkeit uns nicht vor das tv-gerät zwingt, oder ins schlafzimmer:
Also sprach die Göttin und wechselte Größe und Ansehen,
warf ihr Alter ab und stand umatmet von Schönheit.
Lieblicher Hauch entströmte den duft-erfüllten Gewändern,
weithin von der Göttin unsterblichem Leibe erglänzte
leuchtender Schein, und blond umblühten die Locken die
Schultern,
hell wie der Strahl des Blitzes erfüllte ein Leuchten die
Wohnung,
und sie schritt aus dem Haus.
(Homer, Götterhymnen, An Demeter)
und wenn man diesen wunderbaren frühling nicht übersieht aus zeitmangel, müdigkeit und arbeits-leid...
Weil es die jüngste Nachtkritik ist, die geschrieben wurde; erst heute geht es mit dem
Stockmann-Stück im DT Berlin weiter - einfach auf "Vorschau" klicken oder auf der "ersten Seite" etwas weiter runterscrollen und den April direkt anklicken, dann können Sie sich derlei Fragen demnächst spielend selbst beantworten.