Und die Welt schaut tatsächlich zu

von Katja Schlonski

Heilbronn, 9. Januar 2010. Wer Flüchtling ist, der ist erwachsen. Zwangsläufig. Die 15jährige Arigona Zogaj hat ihre Kindheit schon mit fünf Jahren eingebüßt. Seither lebt sie in Österreich, und zum 14. Geburtstag erhielt sie den Abschiebungsbescheid: Vater und Geschwister wurden in einer Nacht- und Nebelaktion in den Kosovo gebracht. Arigona und ihre psychisch kranke Mutter waren nicht zuhause und entgingen so diesem Schicksal.

Soweit die Fakten, die den realen Hintergrund für das neue Stück von Holger Schober liefern. Es ist bereits das dritte Stück des österreichischen Autors, das er gemeinsam mit dem Regisseur Dominik Günther zur Uraufführung bringt. Für das Stück "Clyde und Bonnie" erhielt das Gespann den STELLA-Preis als beste Produktion im Jugendtheater 2009. Auch "Hikikomori" am Thalia Theater Hamburg sorgte für Furore und war für den Theaterpreis "Faust" nominiert.

Auch Rehe werden abgeschossen, wenn sie krank sind

Nun also "Heimat.com" am Stadttheater Heilbronn: Der alltägliche Wahnsinn beginnt mit dem Auftritt einer jungen Frau vor einem öden Baucontainer. Scheinbar von allen guten Geistern verlassen, spielt sie Selbsttötungsvarianten durch. Arigona, die im Stück Amira F. heißt und in Heilbronn lebt, hat per Webcam von einem Keller aus diese Botschaft um die Welt geschickt: "Wenn ich abgeschoben werde, dann bringe ich mich um." Und die Welt schaut tatsächlich zu. Eine gnadenlose Schicksal-Vermarktungsmaschinerie wird in Gang gesetzt.

Plötzlich öffnet sich der Baucontainer. Fast wie ein Laptop klappt er auf und gibt den Blick frei auf eine grelle Showbühne. Zwei durchgeknallte TV-Moderatoren, ein kongeniales Medien-Pärchen, verkaufen in bester von Sinnen-Balder-Manier die Ware Amira. Das "Mäuschen" läuft in die Medienfalle, und die Regie lässt keine Grausamkeit aus: Da wird munter das "Lied von den Zehn Kleinen Ausländerlein" intoniert, es wird Wohltätigkeit inszeniert und ein gewisser Innenminister imitiert.

"Er habe schlicht und einfach nach Gesetzen zu handeln", lässt Schober ihn sagen – "auch wenn mich Rehleinaugen aus dem Fernseher anstarren. Denn auch Rehe werden abgeschossen wenn sie krank sind." Ach ja: Und dann ist da noch diese Kanzlerin mit den herunter gezogenen Mundwinkeln, die den medialen Umgang mit Amira als verwerflich und unappetitlich geißelt und gleichzeitig Verständnis für das Verhalten ihres Kabinettskollegen einklagt: "Die Regierung muss bestehende Gesetze schließlich umsetzen!"

Es gibt kein emotionales Entrinnen

Die Regie versteht es trefflich, solche Konflikte zu pointieren, Slapstickelemente einzubauen, ohne dabei ins allzu Groteske abzugleiten, und dabei weitere Handlungsperspektiven zu eröffnen. Die Schauspieler, Nancy Fischer als Amira, Katharina Voß und Nils Brück als Moderatoren, spielen dabei geschickt auf der Klaviatur zwischen Charge und feinsinniger Charakterstudie. Ein Blick, eine winzige Geste nur oder ein Laut genügen. Für die Zuschauer gibt es in diesem kleinen Theaterraum nur schwerlich ein emotionales Entrinnen, und nur gelegentliches lautes Lachen macht schmerzliche Erkenntnis als Selbsterkenntnis einigermaßen erträglich.

Die Hauptperson des Stücks, Amira, mutiert unterdessen zur Promi, die nicht länger Geld für einen guten Zweck, sondern in eigener Sache einspielt: Amira-Fanartikel als Tassen oder T-Shirts versprechen fragwürdige Gewinne. Den Job – und sei's bei ALDI an der Kasse – können sie freilich nicht ersetzen. Schlimmer noch: Für ALDI taugen Flüchtlinge schlecht; für den Knast womöglich um so besser, wie Amira bald schmerzlich erkennen muss.

Wenn die Voyeure weiterziehen

Es kommt, wie es kommen muss: Das massenmediale Asylmelodram ist ausgemostet. Die allgemeine Empathie kippt, und nach einer Weile reagiert die Öffentlichkeit genervt auf die junge Frau und ihr Schicksal. In Internetforen wird sie beschimpft und diffamiert. Auf offener Bühne stiehlt ihr ein Axt-Mörder die Show. Ein neuer Aufreger tritt auf den Plan.

Da haben wir ihn also, den "Natascha-Kampusch-Effekt", der Autor wie Regisseur für diese Arbeit gleichermaßen inspiriert und bewegt zu haben scheint. Medienrummel und Mitgefühl sind übertragbar. Eine Katastrophe verdrängt die nächste aus dem öffentlichen Bewusstsein, und plötzlich sind sie alle wieder da, die Video-Voyeure, die sich mehr oder weniger klammheimlich weiden am Unglück der anderen: Sie dürfen hemmungslos chatten, ohne dass ein Administrator ordnend eingreift: "Diese Kanaille", schreiben sie; oder: "Jeder kriegt eben, was er verdient, schließlich hat Amira diesen Medien-Hype ja selber ausgelöst!"

Schicksal als Unterhaltungsgegenstand

Zurück bleibt eine junge Frau aus dem Kosovo auf einem Haufen Wohlstands- und Seelenmüll. Ihre Bilder gehen unter die Haut, im Theater wie im wirklichen Leben. Ohne erhobenen Zeigefinger, ambitioniert, engagiert, doch gleichzeitig ratlos und verzweifelt beschreibt "heimat.com" die Zustände in unserer Mediengesellschaft, ihre gelenkten Gefühle und Stimmungen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Jetzt ist es am Zuschauer, sie zu ver- oder zu bearbeiten. Offen bleibt, ob er das wirklich tut. Auch diese Frage hinterläßt der Abend. Amiras Medienmärchen, das ihr Schicksal zum Unterhaltungsgegenstand gemacht hat, lässt grüßen.

Die reale Arigona Zogaj lebt übrigens immer noch akut suizidgefährdet in einer österreichischen Klinik. Ihre Familie ist zerrüttet. Die Mutter hat mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen. Ihr Vater ist verschwunden. Wie im Stück, so auch im Leben: Die öffentliche Stimmung gegen die junge Frau aus dem Kosovo ist inzwischen gekippt, trotzdem gilt sie vielen immer noch als Symbol des Widerstands und Opfer einer gnadenlosen Fremdenpolitik.

Das österreichische Nachrichtenmagazin "Profil" hat sie jetzt als "Mensch des Jahres" ausgezeichnet. Honni soit qui mal y pense!


heimat.com (UA)
von Holger Schober
Regie: Dominik Günther, Ausstattung: Lars Betko, Dramaturgie: Birte Werner.
Mit: Nancy Fischer, Katharina Voß und Nils Brück.

www.theater-heilbronn.de


Mehr über das Theater Heilbronn lesen Sie in den Nachtkritiken zu Alejandro Quintanas Faust I-Inszenierung vom Juli 2009 und In seiner frühen Kindheit ein Garten von Christoph Hein unter der Regie von Axel Vornam im Juni 2009.

 

Kritikenrundschau

In dem in Heilbronn uraufgeführten Stück "Heimat.com" von Holger Schober agieren die "Medien als Unterstützer einer Hilflosen", berichtet Uwe Grosser in der Heilbronner Stimme (11.1.): "Doch dies Schwert ist zweischneidig. Wie schnell Mitleid in Hass umschlagen kann", bekomme die Asylbewerberin Amira in dem Stück zu spüren. Was zunächst "als große Schober'sche Medienschelte" daherkomme, wurzele "tatsächlich tiefer. Hier die schräge Show, dort das verzweifelte Innenleben des Teenagers (...). Zwischen diesen beiden Polen pflanzt Regisseur Dominik Günther ein tiefes Unbehagen in die Köpfe der Zuschauer, denn irgendwo in diesem wirren Spiel von offener Empörung und suggestiver Show gilt es eine Position zu finden." Günthers Inszenierung überspanne den Bogen bewusst, und so sei man "auch als Zuschauer des Stücks langsam genervt von der Verkaufsshow und all dem Brimborium – womit Regisseur Günther haargenau den Nerv trifft. Wie schnell doch aus Sympathie Ablehnung wird."

Im Schwäbischen Tagblatt (12.1.) lobt Hans Georg Frank, dass Dominik Günther Schobers "Stoffsammlung" "äußerst geschickt und sehr einprägsam" inszeniert habe: "Vieles mutet an wie Slapstick, wie eine ins Komödiantische abgedriftete Bestandsaufnahme zeitgenössischer Hopplahopp-Berichterstattung ohne Respekt vor der Menschenwürde und dadurch ausgelöste Niedertracht-Kommentare in Internetforen. Doch dem Publikum bleibt das Lachen im Halse stecken." Gespielt werde "authentisch" und "erschütternd", und gerade weil es kein Happy End geben ermuntere "heimat.com" zum Nachdenken.
(Der gleiche Artikel ist am gleichen Tag auch in der Südwest Presse erschienen.)

Auch Leonore Welzin von der Rhein-Neckar-Zeitung (12.1.) schließt sich dem Lob an: Die "zweischneidige Beziehung von authentischem Elend und überdrehtem Medienzirkus inszeniert Dominik Günther als tragikomische Gratwanderung". "Einzigartig" zeige Nancy Fischer die "Verzweiflung des traumatisierten Teenagers". Dies sei keineswegs "Betroffenheitskitsch", sondern "eine straff rhythmisierte Szenenfolge voll schneller Schnitte und zugespitzter Momentaufnahmen".

 

Kommentar schreiben