Gegen den Wind ums Kap Hoorn

20. Mai 2023. Virginia Woolfs "Orlando", in der die Titelfigur nicht nur die Geschlechter, sondern auch die Grenzen der Kunst in Frage stellt, entwickelt sich derzeit zu einem Bühnenklassiker. In Memmingen hat Martin Clausen jetzt seine Version inszeniert, mit wechselnen Rollen, vielen Kostümen und kommentierenden Schattenspielen.

Von Christian Muggenthaler

Tanzende Mannschaft: Virginia Woolfs Roman "Orlando" von Martin Clausen am Landestheater Schwaben inszeniert © Forster

20. Mai 2023. Virginia Woolfs 1928 erschienener Roman "Orlando" fügt sich recht anschmiegsam an heute viel gestellte Fragen. Fragen nach dem Zuhausesein in Geschlechtern und ihren Rollen beispielsweise. Nach dem Eingehaustsein von diesen Geschlechterrollen durch Klischees, Konventionen und Kleidung. Und nach der prinzipiellen Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Sie und Er und allen anderen. Woolf führt in ihrem ebenso tiefgründigen wie satirischen Buch ihre fiktive Biografie durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte, kurvt herum zwischen künstlichen und wirklichen Welten und Ländern. Orlando ist erst Mann, dann Frau und immer beseelt von der Sehnsucht nach Literatur. Eines vor allem aber bleibt in all diesem feinsinnigen Durcheinander bewusst völlig unklar: "Ob also Orlando mehr Mann oder mehr Frau war, lässt sich schwer sagen und kann nicht jetzt entschieden werden, denn ihre Kutsche rumpelte nun schon über die Pflastersteine Londons."

Dieses "Lässt sich schwer sagen" im Dauergerumpel des Lebens ist es, was die Dramatisierung des Romans im "Schauspiel nach dem Roman von Virginia Woolf" durch Regisseur Martin Clausen am Landestheater Schwaben in Memmingen prägt: "Der Wechsel des Geschlechts änderte zwar die Zukunft der beiden, bewirkte aber nichts, was ihre Identität geändert hätte."

Souveränes Ich

Identität ist das Thema. Deshalb stellen vier Männer und vier Frauen in ständig wechselnden Formationen vier Orlandos, vier Erzähler:innen und allerlei Nebenrollen dar. Das passt sehr gut zur Vorlage: Weil es zum einen eben um die Auflösung der Geschlechtszuordnungen geht. Um das nötige Quäntchen souveränes Ich. Und weil andererseits aber auch, ganz praktisch, irgendwie Bewegung kommen muss in diese Buchvorlage, die sehr viel mehr reflektierend als dramatisch ist und so gut wie ganz ohne Dialoge auskommt.

Orlando6 c Forster uMirjam Smejkal als eine der Orlandos in Martin Clausens Inszenierung am Landestheater Schwaben © Forster

In einem Roman funktioniert das. Diese schwierige textliche Grundvoraussetzung führt aber auf der Memminger Bühne zu einem Theaterstück, das nur so tut, als sei es ein Theaterstück. Es spielt sich ab in einer pausenlosen rhetorischen Schleife zwischen barocker Eleganz und phasenweiser Penetranz immer dann, wenn diese Wortgirlanden sich gar zu sehr verheddern.

Scherenschnitte und früher Stummfilm

Clausen und sein Ausstatter Ivan Bazak versuchen erkennbar, Dynamik ins Sprachgeschehen zu bringen: Zwei weiße, transparente, von hinten beleuchtbare Kuben – das ist dann auch das ganze Bühnenbild – bieten die Möglichkeit eines Schattenspiels, das, irgendwo zwischen Scherenschnitt und frühem Stummfilm, das vorne Dahingesagte hinten kommentieren soll. Das ist irgendwie süß, nutzt sich aber schnell ab. Dann und wann wuseln die Schauspielerinnen und Schauspieler straff choreografiert durcheinander, ohne immer bis zur letzten Gänze erkennen zu lassen, warum sie das tun.

Orlando6 c Forster uNicht die Menschen tragen Kleidung, sondern die Kleidung trägt Menschen - Virginia Woolf-Statement, umgesetzt von Martin Clausen. Auf dem Bild Almut Kohnle und Sebastian Egger als Erzähler:innen © Forster

Die Kostüme ändern sich mit den Jahrhunderten, werden von einheitlichen Uniformen zu nahezu einheitlich Röcken; alle tragen dazu einheitlich schwarze Stiefel. Weil ja nun, schreibt Woolf, nicht Menschen Kleidung, sondern die Kleidung Menschen trägt, ist modemäßig ebenfalls Bewegung drin. Blasmusik hellt die Handlung auf. Alles das ist schon schlüssig und keineswegs weit hergeholt, hilft aber nichts gegen den grundsätzlichen Eindruck, der Text laste so schwer auf dem Bühnengeschehen, dass beide zusammen baden gehen. Da fehlt was: ein weiter gehender Zugriff. Dicke Bilder, die dem dicken Konvolut des Gesagten entgegengestellt würden. Und ganz grundsätzlich jener öffnende dramaturgische Abstand zum Text, der ihm die Chance ließe zu atmen und zu begründen, warum er eigentlich auf die Bühne gehört – jenseits seiner besagten Aktualität.

Text-Potpourri

So schmurgelt die wenige Handlung in beständig gleichbleibender Temperatur vor sich hin. Zum Ende hin kommt es schließlich zu Passagen, in denen die Schauspielerinnen und Schauspieler sich nur noch gegenseitig Textstellen auflisten, als diktierten sie den Einkaufszettel für ein Gemisch tiefgründiger Sentenzen. In Woolfs Roman ist das Mittel der Ironie, von der Bühne herab wird’s aber eher ein Mittel zum innerlichen Ausstieg. Mit großem Charisma und ein bisschen Ironie ihrerseits präsentieren die acht Schauspielerinnen und Schauspieler diese Version von "Orlando", die aber gegen den Wind um Kap Hoorn segelt – wie Orlandos herrlich durchgeknallter Gatte Marmaduke Bonthrop Shelmerdine. Ach wär’s hier auch nur ansatzweise ähnlich schräg.

Orlando
Schauspiel nach dem Roman von Virginia Woolf
Regie: Martin Clausen, Bühne und Kostüme: Ivan Bazak, Dramaturgie: Christine Hofer/Sven Kleine. Mit Michael Naroditski, Laura Roberta Kuhr, Milena Weber, Mirjam Smejkal, Thorsten Hamer, Almut Kohnle, Sebastian Egger, Tobias Loth.
Premiere am 19. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.landestheater-schwaben.de


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Kritikenrundschau

"Im Textfluss wechselnder Erzähler gibt es dankenswerterweise szenische und dialogische Inseln, in denen sich Spiel, Sprache und Humor entfalten können", schreibt Harald Holstein in der Memminger Zeitung (23.5.2023). Getragen werden sie laut dem Kritiker von einem "spielfreudigen und sprachgewandten achtköpfigen Ensemble". Das Bühnenbild von Ivan Bazak zaubere durch Schattenspiele in zwei rollbaren, rechteckigen Lichtkästen einprägsame Bilder, "bei der auch die spannenden Bläserarrangements eine große Rolle spielen". Die zweite Hälfte des Stückes habe "mehr formalen Biss", so der Rezensent. "Besonders bei der Aufdeckung der Ich-Schichten verbinden sich Inhalt und theatrale Form", findet Holstein. "Verhaltener Applaus für eine Aufführung, die reizvolle Höhepunkte und einige textliche Perlen bereithält", schließt er seine Kritik.

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