Unerträglich gleichzeitig

25. Februar 2022. In einer inhaltsstarken Bühnenanordnung inszeniert André Kaczmarczyk den immer noch aktuellen Virginia Woolf-Klassiker "Orlando" und flattert dabei zwischen Revue und Reflexion – eine Identitätskrise im Patriarchat.

Von Cornelia Fiedler

"Orlando" nach Virgina Woolf am Düsseldorfer Schauspielhaus © Sandra Then

25. Februar 2022. Ganz, ganz oben, ganz hinten, dort, wo nur Scheinwerfer und Seilzüge leben können, zwischen Bühnenrückwand und Decke also, da sitzt die Band – aufgereiht wie Zugvögel auf einer Hochspannungsleitung. Schwindelerregend weit unter ihnen ackert und pflügt das Düsseldorfer Ensemble durch die Jahrhunderte. Das ist irritierend und schön, erweitert den Bühnenraum in eine unerwartete Richtung. Es erzählt nebenbei mehr über den Roman "Orlando" als manche Szene des Abends: Auf Regeln zu pfeifen, die Grenzen von Kunst, Gesellschaft und Natur nach Lust und Laune zu erweitern, das ist schließlich eine Spezialität von Virginia Woolf.

Perspektivwechsel

Alter und Geschlecht sind überbewertet, soviel steht fest. Also kann Cennet Rüya Voß als Adelsspross Orlando mal eben fünf Jahrhunderte durchleben – skurrile Rituale und Normvorstellungen inklusive. Zudem wechselt die Titelrolle nach der Hälfte der Handlung unvermittelt vom Mann zur Frau. Begleitet wird Orlando von Claudia Hübbecker, die Virginia Woolf selbst spielt. Mal souffliert sie, mal kommentiert sie, mal begutachtet sie still lächelnd ihr Werk.

Orlando5 c Sandra Then uEin erster Teil voller Komik mit Belendjwa Peter Ekemba, Carla Wyrsch, Milena Cestao Kolbowski, Mehdi Moinzadeh, Claudia Hübbecker und Cennet Rüya Voß © Sandra Then

Vor allem im ersten Teil der Inszenierung setzt Regisseur André Kaczmarczyk in hohem Maß auf Komik. Das Potenzial hierfür hat Woolf allen Figuren mitgegeben. Aus deren leiser Ironie wird in der paillettenglitzernden Bühnenshow aber zu oft Klamauk: Rainer Philippi etwa spielt Queen Elisabeth I als altbackene Drag-Persiflage. Er zieht beim Sprechen die Vokale ins Endlose und präsentiert mit vulgärem Schwung Lackstiefeln und -strapse unter der wogenden Königinnenrobe.

Verachtung mit Tradition

Auch die Männer kriegen ihr Fett weg, keine Frage. Cathleen Baumann etwa spielt einen extrem unangenehmen, selbstherrlichen Dichter Nick Greene, der seinen Bewunderer Orlando nach Strich und Faden abzockt. Nur gibt es halt einen strukturellen Unterschied, der die Männer- und die Frauen-Parodien des Abends in ihrer Wirkung doch sehr ungleich macht. Frauenverachtung hat Tradition in unser aller patriarchal geprägtem kulturellen Gedächtnis, Männerverachtung nicht.

Die Grenzen einer Frauenrolle

Nach der Pause wechselt die Perspektive und der Abend nimmt an Fahrt auf. Orlando, männlich sozialisiert und an Privilegien gewöhnt, wacht nach sieben Tagen Koma in Konstantinopel als Frau auf. Plötzlich wendet sich der androgyne Dreier-Chor gegen sie, der das Geschehen von Beginn an kommentiert hat: In Form dreier Matrosen beschimpft er die junge Frau aufs Derbste für ihre unfeminine Kleidung. In Form dreier Richter spricht er ihr das Erbe ab. Orlando entwickelt einen scharfen Blick für die Verhältnisse und Cennet Rüya Voß darf nun deutlich mehr auf die Tube drücken. Sie springt wild zwischen den Identitäten und kommentiert – aus der alten, selbstbewusst männlichen Denke heraus – ihre Versuche, die engen Grenzen einer Frauenrolle einzuhalten: weniger Denken, mehr Eitelkeit, lautet die Grundregel.

Orlando3 c Sandra Then uWas ist dieses Leben nur? Mehdi Moinzadeh, Claudia Hübbecker und in der Titelrolle hinten rechts: Cennet Rüya Voß © Sandra Then

Als Orlando, noch immer ein großer Fan der Dichtkunst, in einem Salon auf drei berühmte Autoren trifft, besteht ihre neue Rolle darin, Tee zu servieren. Die Dichter setzen zu einem misogynen Rundumschlag über Frauen in Fiktion und Realität an – und die Lage eskaliert. "Eingesperrt, geschlagen, durchs Zimmer geschleudert", würden Frauen in der Realität, wettert Orlando. Es folgt eine minutenlange Abrechnung mit dem Patriarchat, die es in sich hat.

Revue und Reflexion

"Orlando" ist schon als Buch schwer zu fassen. Er flattert wild zwischen Schelmenroman, psychologischer Studie, Tagtraum, Gesellschaftsanalyse, Groteske und Hommage an Woolfs geliebte Freundin Vita Sackville-West. In Momenten blitzt all das in Kaczmarczyks Inszenierung auf. Revue und Reflexion finden aber oft nicht recht zusammen.

Schön und beunruhigend zugleich ist das Ende. Nach einer heftigen Identitätskrise zieht sich Orlando noch weiter aus der Gesellschaft zurück. "Ich liebe Bäume und Scheunen und Hunde und die Nacht. Aber Menschen? Das weiß ich nicht. Tratschsüchtig, gehässig, nie ehrlich…", lautet ihre Bilanz. Sängerin Amy Frega singt ein letztes Mal "What is life", Rücken an Rücken mit Orlando. Voß lehnt sich an sie, blickt nach oben und lacht und lacht oder weint vielleicht und kann nicht aufhören – und darin ist Karneval und Krieg, Premiere und Pandemie, alles unerträglich gleichzeitig.

 

Orlando
von Virginia Woolf
Regie, Fassung und Liedtexte: André Kaczmarczyk, Dramaturgie: Janine Ortiz, Bühne: Ansgar Prüwer, Kostüm: Martina Lebert, Musik: Matts Johan Leenders, Licht: Christian Schmidt, Live-Musik: Matts Johan Leenders, Max Hilpert, Mathias Höderath.
Mit: Amy Frega, Cennet Rüya Voß, Claudia Hübbecker, Rainer Philippi, Cathleen Baumann, Joscha Baltha, Mehdi Moinzadeh, Milena Cestao Kolbowski, Belendjwa Peter Ekemba, Carla Wyrsch, Nina Zorn.
Premiere am 25. Februar 2022
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.dhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Eine große Theaterlust" sah Stefan Keim vom WDR (28.02.2022) auf der Bühne am Werke. Der Abend sei dank des groß aufspielenden Ensembles ein Erlebnis, er habe jedoch auch seine Längen.

"Ambitionierter Klamauk" lautet das Urteil von Birgit Koelgen in D-dorf aktuell (25.02.22). Der Regisseur wolle "auf keinen Fall literarische Langeweile aufkommen lassen" - "zu viel, zu laut" ist das Ergebnis. Es sei schwierig, "in dieser Show mit irrelevantem Bühnenbild (Barockrahmen hier, Kunstbaum da) den dramaturgischen Diskurs des Programmhefts wiederzuerkennen. Dass am Ende noch schnell mehrere Monologe über Ich-Schichten und andere Kompliziertheiten aufgesagt werden, wirkt eher aufgesetzt."

Hauptdarstellerin Voß sei das Zentrum der Inszenierung - aber "leider kein starkes", so Max Florian Kühlem in der Rheinischen Post (26.02.22). Ihre langen Monologe trage sie engagiert, doch oft "larmoyant und melancholisch" vor. Beim letzten ausufernden "eigentlich spannendsten" Monolog, inszinatorisch ungünstig ans Ende gesetzt, sei das Publikum schon komplett am Ende. Der Regisseur habe hier zu viel gewollt: "Gesellschaftsstück und Gesellschaftskritik, Entwicklungsroman, Liederabend, Nummernrevue, Travestie- und Kostümparty". Am besten gelinge noch die Kostümparty, findet der Rezensent.

Die Besucher feierten die Premiere "artig und leicht ermattet," schreibt Michael-Georg Müller in der Westdeutschen Zeitung (26.02.22). Kaczmarczyk fordere vom Publikum Geduld und Sitzfleich: "lange drei Stunden ziehen sich die Berichte über Orlandos Stationen hin, denn man hält sich an die umfangreichen Beschreibungen und Reflexionen des Originals, verdichtet nicht oder kürzt nur geringfügig." Jedoch mache Hauptdarstellerin Cennet Rüya Voß die Facetten der/des rätselhaft umwandelten Orlando glaubhaft. Das Geschlecht sei überbewertet, das mache sie klar. "Im ersten Teil mit gebremsten Schaum, später spielt sie sich frei."

Das Stück wolle zu viel, meint Jo Achim Geschke in der Neuen Düsseldorfer Online Zeitung (27.02.22): "Schriftstellerin-Problematik, Gender-Problem, Stellung der Frau in den Epochen, Identitätsproblematik ..." Die Reflexion und Darstellung der Gesellschaft sei das Wichtigste im Roman von Virginia Woolf. Das hätte auch die Dramatik der Inszenierung tragen können, wenn gekürzt worden wäre. Trotzdem sei "Orlando" ein hoch interessantes und leider auch immer noch hoch aktuelles Stück.

 

Kommentar schreiben