Learning Feminism from Rwanda - Sophiensaele Berlin
Etwas Entwicklungshilfe gefällig?
von Elena Philipp
Berlin, 29. Oktober 2020. Ach, diese Lücken, diese entsetzlichen Lücken! Gender Pay Gap: 21 Prozent. Gender Pension Gap: 52 Prozent. Gender Care Gap: in den Babymonaten unmögliche 110,6 Prozent! Wie kann das sein? Geringere Bezahlung, weniger Rente, ungleich verteilte Fürsorgearbeit, außerdem kaum weibliche Unternehmensvorstände – und alle drei Tage wird hierzulande eine Frau von ihrem (Ex-)Partner umgebracht: Schlecht steht Europas Musterstaat Deutschland da im internationalen Vergleich, wenn es um Geschlechtergerechtigkeit geht.
Nach dem Krieg die Geschlechtergerechtigkeit
In Aufregung versetzt diese miese Leistung die Bühnenfigur von Lisa Stepf. "Das ist keine Politik für die Frauen, und das ist schon gar keine moderne Politik, mit der man die Zukunft dieses Landes gestalten kann", zitiert sie wütende Reden weiblicher Bundestagsabgeordneter frontal ins Publikum. Stepf hat die Flinn Works-Performance "Learning Feminism from Rwanda" mit entwickelt, und steht bei der Premiere in den Berliner Sophiensaelen als Vertreterin Deutschlands auf der Bühne. Nirere Shanel vertritt Ruanda, einen Shooting Star der Geschlechtergerechtigkeit: 62 Prozent Frauen sitzen im dortigen Parlament. In Deutschland sind es gerade einmal 31 Prozent, wie große lila Lettern auf vier weißen Paneelen im Bühnenhintergrund anzeigen.
"Wie habt Ihr das so schnell geschafft?", fragt Stepf verwundert drängelnd in deutscher Mustermädchen-Manier. Shanel und ihre drei schwarzen Co-Performer*innen, die pandemiebedingt nur via Video an der Aufführung beteiligt sind, feiern noch tanzend und singend den vierten Platz Ruandas in der Kategorie "Politisches Empowerment" des "Global Gender Gap Reports 2020", während Stepf die Tabelle bis zum zwölften Platz für Deutschland herunterbeten muss. "In 1994 we had our Ground 0 and we had to build a new society", erklärt Shanel, die als Miss Ruanda in glitzernden Stiefeletten souverän die Szene beherrscht. Politischer Wille macht den Unterschied: Geschlechtergerechtigkeit wurde nach dem ruandischen Bürgerkrieg zur Grundlage der Politik – zu viele Männer waren getötet worden. Anders als in Deutschland gab es politisch keine Rolle rückwärts: Hierzulande wurden die Frauen in den 1950ern wieder in die Küche verbannt, sinniert Stepf.
Der Beat der Zahlen
Afrika leistet Entwicklungshilfe für das schwächelnde Europa – das ist eine auch hier wirksame, erfrischende Umkehrung der Perspektive. Stepfs Figur der schuldbewusst-eifrigen Privilegierten erinnert an Yael Ronen-Inszenierungen, wobei Flinn Works den Humor sparsamer dosieren und ihr Material nicht satirisch überzeichnen. Ihre Recherchen theatralisieren sie geradlinig. Wesley Ruzibiza etwa adressiert das Publikum vom Screen herab als UN-Vertreter, der den EU-Staaten für ihre unzureichenden Gender-Performance Sanktionen in Aussicht stellt – das Einfrieren von Vermögenswerten oder Reise- und Exportverbote. Undenkbar! Oder?
Papieren wirkt "Learning Feminism from Rwanda" trotz all der Zahlen und Fakten nicht. Yvette Niyomufasha ist zu Beginn in der Projektion mit einem kraftvollen Kampftanz im Blaumann zu sehen, und am Schluss feuert Nirere Shanel mit energetisierendem Gesang Lisa Stepf an, die, auf einen Screen trommelnd, die Prozentzahlen all der Gaps, Lücken und Ungerechtigkeiten in die gewünschte Richtung bewegt. Stepfs Statistik-Furor begegnet Natasha Muziramakenga als Radiomoderatorin Auntie Mama mit gut gelaunter Power. "Oh Lisa, you do like your numbers", quittiert sie kopfschüttelnd den in Live-Spiel und Screen-Performance fingierten Anruf der Deutschen bei Radio Byishimo. Über die Mental Load Gap möchte sie beim vierten Anruf dann nicht mehr diskutieren: "Weißt du, wie groß die Lücke zwischen unseren Gehältern ist?", rät sie leicht gereizt zu einer deutschen Beratungs-Hotline. "Mach die Leitung frei für Ruander*innen, die viel Sex haben trotz mieser Gehälter", übersetzen die Untertitel den englischsprachigen Dialog, der zuvor einige saftige Missverständnisse bezüglich Gender Pay Gap und prozentual bemessener Genitalgrößen produzierte.
"Tu was", lautet die letzte Botschaft von Natasha Muziramakenga an Lisa Stepf. Auch Ruanda hat noch einiges zu tun, bis Geschlechtergerechtigkeit im privaten Bereich erreicht ist. Gibt es Praktiken sexueller Selbstbestimmung, etwa erlaubtes Fremdgehen, hat sich die Frau traditionell dem Mann unterzuordnen, erzählt Nirere Shanel, die als Insignien königlicher Macht eine Flechtkrone, einen Stab und einen Halsschmuck trägt. Kulturell bedingte Widersprüche nicht ausblendend, ist "Learning Feminism from Rwanda" eine instruktive und empowernde Lecture Performance. Close the gaps!
Learning Feminism from Rwanda
von Flinn Works
Künstlerische Leitung: Lisa Stepf, Sophia Stepf, Regie: Sophia Stepf, Videodesign / Szenographie: Marc Jungreithmeier, Setbau: Büro unbekannt Berlin, Choreographie: Wesley Ruzibiza, Komposition: Andi Otto, Kostüm: Tatjana Kautsch in Zusammenarbeit mit Cédric Mizero, Maximilian Muhawenimana, Afriek, Ibaba Rwanda und Louise Mutabazi, Einspielungen Inanga: Sophia Nzayisenga, Video Ruanda: Kivu Ruhorahoza, Lichtdesign / Technische Leitung: Susana Alonso, Regieassistenz: Annekatrin Utke, Produktion Ruanda / Dramaturgie: Louise Mutabazi, Produktionsleitung / Kompaniemanagement: Gustavo Fijalkow.
Von und mit: Yvette Niyomufasha, Natasha Muziramakenga, Wesley Ruzibiza, Nirere Shanel, Lisa Stepf/Cornelia Dörr.
Premiere am 29. Oktober 2020
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.sophiensaele.com
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