Usher - Philippe Quesne inszeniert in der Berliner Staatsoper die Uraufführung von Annelies van Parys Fortschreibung eines Opernfragments von Claude Debussy
Lehren aus der Gruft
von Frauke Adrians
Berlin, 12. Oktober 2018. Wer an Claude Debussy denkt, hört helle Farben. Kaum zu glauben, dass der Franzose, der heute oft als Impressionist par excellence betrachtet wird, ausgerechnet Edgar Allan Poes "The Fall of the House of Usher" veropern wollte, eine Geschichte von Finsternis, Schuld und lähmender Furcht. Er ist daran gescheitert, die Oper blieb Fragment. Ein Musikdrama braucht Handlung und Charaktere, brütende Angst allein füllt keinen Theaterabend. Auch der Versuch, seiner "Chute de la maison Usher" mehr Plot zu verleihen, indem er den Arzt der Ushers zum handelnden Finsterling aufbaute – eine Figur, die in Poes Text nur in einer dunklen Andeutung vorkommt -, brachte Debussy nicht weiter.
Wille zum Horror
Die Komponistin Annelies van Parys und die Librettistin Gaea Schoeters schrieben nun den Opernansatz fort, ausdrücklich ohne die Rekonstruktion einer Debussy-Oper zu versuchen. Van Parys' Kammeroper heißt kurz "Usher", Philippe Quesnes Inszenierung im alten Orchesterprobensaal der Berliner Staatsoper siedelt sie in einem Wohnzimmer mit Couch, Veloursteppich und diversen Röhrenfernsehern an, das an US-Horrorfilmhäuser der 80er Jahre erinnern soll (Amityville! Shining!).
Sie bemühen sich alle sehr: Van Parys mit ihrer ausdrücklich nichtimpressionistischen Musiksprache, die den Schrecken in Dissonanzen, viel dunklem Blech, düster pulsierendem und grellem Schlagwerk, Angstgeflirre der hohen und finsterem Dräuen der tiefen Streicher abzubilden versucht. Schoeters Text, der Debussys Idee vom mörderisch manipulativen Doktor aufgreift. Die Musiker der Staatskapelle Berlin und der Orchesterakademie unter Leitung von Marit Strindlund, die mit Präzision und Lust an der diffizilen Aufgabe zu Werke gehen – die staubtrockene Akustik des Probensaals arbeitet leider gegen sie – und die Sängerdarsteller, die in ihren Rollen permanent gramerfüllt umherschleichen müssen, sofern sie nicht in Schreckens- oder Totenstarre zu verfallen haben. Der gute Wille zum Horror ist vorhanden, die Wirkung ist jedoch eine völlig andere.
Vorschnelle Einsargung
Das liegt nicht nur daran, dass ein an filmische Schockeffekte gewöhntes Publikum sich weder von ein paar Trockeneisschwaden beeindrucken noch mit etwas Rotlicht, Wisper- und Halleffekt in eine modrige Gruft versetzen lässt. Es hat vor allem damit zu tun, dass Poes Textvorlage nur verlieren kann, wenn man einen bösen "Médecin" als Nemesis hinzudichtet. Wenn an der vorschnellen Einsargung der scheintoten Madeline Usher in Wahrheit ein Arzt mit fiesen angstschürerischen Absichten schuld ist, dann ist Roderick Usher mitsamt seiner Todessehnsucht und seinen Schuldgefühlen nur noch eine Randfigur und der ihn besuchende Freund im Grunde überflüssig. Dass die Kammeroper auch noch eine aktuelle Lektion enthalten muss – "Angst vor dem Unbekannten erzeugt Wut", belehrt der Médecin das Publikum, das den gedanklichen Schritt zum heutigen Wutbürger ganz gewiss wunschgemäß vollzieht –, macht die Sache nicht besser. Viel dicker wäre die Moral von der Geschicht' kaum aufzutragen gewesen.
Gegen so viel wohlmeinende Umdeutung von Poes Horrorstory konnte bei der Uraufführung auch das Sängerquartett aus drei Baritonen und einem Sopran nicht anspielen. Dominic Kraemers Médecin im Karo-Pullunder hatte so gar nichts Diabolisches an sich – nicht einmal, als er in einem fröhlichen kleinen Walzer die Angst als politisches Instrument und Mittel der sozialen Kontrolle besang –, Martin Gerke als Freund und Besucher war meist zum Herumstehen verdammt.
Herzzerreißende Laute
Madeline und Roderick Usher, die Geschwister im rapiden körperlich-seelisch-moralischen Verfall, ergaben noch die interessantesten Rollen: Ruth Rosenfeld sang den Part der Schwester angemessen überspannt mit irrlichternden Vokalisen, David Oštrek verlieh dem Bruder mit rollenden Augen und stolperndem Gang viel Zombiehaftes und stimmte über Madelines allzu geliebtem Leichnam herzzerreißende Klagelaute an. Doch das gesamte Zurschaustellen von Wahnsinn, Inzest und einer höchst ungesunden Arzt-Patientin-Beziehung erregte keinen Schauder, schon gar nicht das namenlose Grauen, das Edgar Allan Poe so sicher zu erzeugen verstand.
Dafür bekam das Publikum noch eine gesungene Lehre mit auf den Heimweg: Schwestern mögen es nicht, von ihren Brüdern überbehütet zu werden. Da fühlen sie sich nämlich wie erdrückt und erstickt. Und der Fall des Hauses Usher? Der fand bloß auf den TV-Bildschirmen statt. Dafür aber beliebig oft.
Usher
Kammeroper von Claude Debussy / Annelies Van Parys
Text: Claude Debussy / Gaea Schoeters nach "The Fall of the House of Usher" von Edgar Allan Poe
Uraufführung
Inszenierung, Bühnenbild, Licht: Philippe Quesne, Musikalische Leitung: Marit Strindlund, Kostüme: Philippe Quesne und Christin Haschke, Dramaturgie: Roman Reeger.
Mit: David Oštrek, Martin Gerke, Ruth Rosenfeld, Dominic Kraemer
Dauer: 90 Minuten, keine Pause
www.staatsoper-berlin.de
Dass die Musik Van Parys den Personen mit sehr gesanglichen Melodien folge, "die auch mal zu veritablen Arien auswachsen dürfen", sei wunderbar zu hören, "wenn auch manchmal etwas überfrachtet mit Hinweisen auf die Rolle der Angst in der Politik", so Niklaus Hablützel in der taz (online 14.10.2018). "Nur zu sehen ist davon nichts." Quesne versuche vergeblich Gruselgefühle zu wecken: "Nur farbige Nebelschwaden trüben manchmal die Sicht auf die verzweifelten Posen der Sänger in Alltagskostümen und der Sängerin in Schlafzimmergarderobe."
"An dieser Inszenierung stimmt einfach alles", findet hingegen im Tagesspiegel (15.10.2018): "Der Gesang, der klaustrophobische Klang des Orchesters, das düstere Bühnenbild sowie die Spezialeffekte wie etwa die vielen Rauchschwaden und Blitzlichtgewitter, die den Untergang des Hauses ankündigen." Die Geschichte ziehe einen derart in den Bann, dass man darauf achten müsse, nicht selbst wahnsinnig zu werden. Das Libretto zeige Ushers grundlose Panik als tiefmodernes Phänomen, indem es Trump und Mitglieder der Alt-Right-Bewegung zitiere, um Furcht als effizientes Manipulationsmittel zu enttarnen. "Ein verstörender Appell an die Gegenwart."
Ein bisschen mehr kompositorischen "Mut zur Lücke" hätte sich Julia Spinola vorstellen können, wie sie im Deutschlandfunk (13.10.2018) sagt, angesichts des Themas, seiner Schauerromantik. Quesnes Inszenierung mache aus der Not des kleinen Raumes eine Tugend und schaffe eine klaustrophobische Atmosphäre: "Man sitzt selber in der Enge dieses Gruselhauses." Der Gegenwartsbezug bleibe diskret. Ihr Fazit: "gelungen".
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