Schwarzer Engel - Frank Castorfs brasilianische Inszenierung zieht nach Berlin um
Die Kraft der Kolportage
von Simone Kaempf
Hannover, 23. Juni 2007. "Wir sind nicht gleich, eh wir einander nicht die Häute abgezogen haben." Diese messerscharfen Worte stammen von Heiner Müller. Die brasilianischen Schauspieler, die sie jetzt sprechen, stacheln sich dazu mit bedrohlichem Getümmel und rhythmischem Gestampfe an. Man sieht ausgeschnittene Dekolletees, gebleckte Zähne, aufgerissenes Augenweiß, viel nackte dunkle Haut und immer wieder die goldblonden Perücken, als Brandmal für diejenigen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als weiß zu sein.
Zusammen ergibt das ein Bekenntnis zum Gegenstand des Abends: der Besessenheit vom Tod und der Besessenheit von der Auslöschung alles Ungleichen. Die Szene spielt in einer Blechhütte, es könnte aber auch ein Asylanten-Container sein. Oder eine Garage, wie es der Text vorsieht. Exakt zuzuordnen ist der Blechkasten rechts auf der Bühne jedenfalls nicht. Natürlich dokumentiert die Szene aber eine andere Unmöglichkeit: nämlich Kontrolle über die Hautfarbe zu erlangen.
Heiner Müller in der Favela-Hütte
Das zentrale Paar, erfunden von dem brasilianischen Dichter Nelson Rodrigues, probiert es dennoch. Der Schwarze würde jeden Mord begehen, um ein weißer Mann zu werden. Seine weiße Frau Virigínia ermordet schließlich die gemeinsamen Kinder, weil sie deren schwarze Hautfarbe nicht ertragen kann - Rassenhass trifft auf Hassliebe. Als würde das noch nicht reichen, hat Frank Castorf Rodrigues' Text mit einem Stück Heiner Müllers zusammengeführt. "Schwarzer Engel von Nelson Rodrigues mit der Erinnerung an eine Revolution: Der Auftrag von Heiner Müller" heißt der Abend, der jetzt, ein halbes Jahr nach seiner Premiere in São Paulo, auf dem Festival Theaterformen Hannover Deutschlandpremiere hatte, und dann ab nächster Woche an der Volksbühne in Berlin zu sehen ist.
Müller ist es wahrscheinlich mit zu verdanken, dass Castorf in diesem Stück die schwarzen Rollen mit weißen Schauspielern und vice versa besetzt hat. In Brasilien sah man in dieser Volte den genialischen Clou, der die Absurdität des Originals noch einmal auf die Spitze trieb. Doch Hannover ist nicht São Paulo. Anders als dort, sieht der Abend schon während der Anfangsprozession wieder erkennbar vor allem nach einem aus: nach einer Castorf-Inszenierung. Unnachahmlich, wie die sieben brasilianischen Schauspieler und –innen in weißen Kleidchen und Stöckelschuhen auf die Bühne staksen und sich unter Zeitungspapier aneinander geschmiegt zum Schlafen legen. Sie sehen dabei wie Transvestiten aus, die sich als Engel verkleidet haben. Virigínia, gespielt von Denise Assunção, fällt nicht minder durch ihr Puffgepolter auf. Ihr Mann Ismael (Roberto Áudio) trägt eine schlabberige Trainingshose und schleppt die Halskette des Sklaven mit sich.
Ich Frank, Du schwarzer Engel
Es gehört zu den strengen Gesetzen in Castorfs Theaterwelt, dass die Figuren bis in ihre Sexualität von den geschichtsmächtigen Energien der Illusion und Destruktion bestimmt sind. Keine Frage, dass Virigínia und Ismael ein Paar sind, das im jeweils anderen auch sich selber sieht. Sie ist eine Weiße, die schwarze Kinder zur Welt bringt, scheint er immer wieder zu denken, und wenn er sie ins Bett gezerrt hat, fällt er mit der Raserei des Eroberers und zugleich des Sklaven über sie her, der sich seiner Herrin bemächtigt hat.
Neumann hat dafür einen hybriden Schauplatz gebaut. Hinter den Holzplanken einer Favela-Hütte, die bald schon auseinander genommen wird, offenbaren sich ein glitzerndes Schlafzimmer rechts und ein Blech-Container links. Unsichtbar dahinter eine Bar, aus der immer wieder per Videokamera übertragen wird. Dass hierher die Revolutionäre aus Müllers "Auftrag" geschickt werden, um einen Aufstand vorzubereiten, macht ihre Mission zu einem offenen Abenteuer. Doch die Frage, worin dieser Auftrag eigentlich besteht, gerät schon bald in den Hintergrund, und der Abend verheddert sich in Privatzankereien der Großfamilie, die zusammen in dem Haus lebt. Die Tante hat Wind davon bekommen, dass Ismael seine einzige weiße, und eigenhändig geblendete Tochter zur Geliebten gemacht hat. Um selbst den Platz an seiner Seite einzunehmen, versucht sie nun, das Mädchen mit Tickets nach Oslo weg zu blonden weißen Männern zu locken. Auf der Bühne sind das Szenen, die endlos lang geraten, zumal die brasilianischen Schauspieler nicht so exzentrisch agieren, wie im Vorwege durchgedrungen war.
Desillusionierung als Verdienst
Mit Castorfs Ausflug nach Brasilien und mit seinem scheinbar völlig ironiefreien Beitritt zur Religionsgemeinschaft der Santeria verbindet sich natürlich die Hoffnung, dass die Versenkung in eine fremde Kultur und die Beschäftigung mit einer Praxis, die sich auf der Schwelle vom Profanen zum Heiligen vollzieht, Lebensüberdruss und Vitalitätsverlust kurieren könne. Der "Schwarze Engel" ist jedoch ein Auftragswerk. Dessen portugiesische Sprache erscheint dabei noch als das Fremdeste. Der Grundtext von Rodrigues stünde außerdem ziemlich dünn da, wenn nicht Passagen aus Heiner Müllers "Auftrag" eingearbeitet wären. In einer einfachen, aber wirkungsvollen Verschiebung pervertieren Virigínia und Ismael die Botschaft der Gleichheit und Brüderlichkeit. Denn so wie bei Castorf die schwarze Virigínia ihre schwarzen Kinder auslöscht, ertränkt auch der weiße Ismael am Ende seine weiße Tochter. So haben sie endlich gleichgezogen. Mag der Abend auch oft die Kolportage streifen und an vielen Stellen das Banale und Aufgetakelte eher ziellos mit dem Leben verbinden, die Desillusionierung der Trias Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sitzt dann doch tiefer als nur in der Verarmung aller Lebensenergien: Sie steckt im Antipodischen selbst, das dieser Abend reichlich ausströmt.
Kritikenrundschau
Castorf bleibe sich treu, meint Christina Sticht für die dpa (24.6.2007): "Vergewaltigungen, minutenlanges Kotzen, Messerstechereien, Table-Dance und eine Kreuzigung." Nichts lasse der Regisseur aus, "um das Publikum zu provozieren". Und während die Schauspieler zunächst wie in einer "billigen Telenovela" deklamierten, "brüllen sie sich später fast nur noch an." Man sehe ein "Theater der Grausamkeit". Denn Castorf "dekonstruiert, statt Sinn herzustellen". Und er rufe mit "starken Bildern" Gefühle hervor, "und sei es nur Ekel und Abscheu".
"Falls Castorf nach Brasilien gereist ist", schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (25.6.2007), "um sich ein paar Anregungen für seine Theaterarbeit zu holen, war die Reise vergebens." Es sei nämlich ein Castorf zu sehen, wie man ihn kenne: "druckvoll, oberlehrerhaft, nervig." Dabei wirke „das ganze Gebrülle und Gerenne“ wie ein "verzweifeltes Mühen um Intensität". Entstanden sei aber nicht mehr als "ein Stück aus dem Theatermuseum", Abteilung deutsches Regietheater. "Schön, dass es noch andere Theaterformen gibt."
Der Inszenierung fehlten, schreibt Dirk Pilz im Kölner Stadtanzeiger (26.6.2007), jene Castorf-Schauspieler, "die sich mit Haut und Haaren opfern, die keine Figur ausstaffieren, sondern zum Explodieren bringen." Statt dessen sei "in dem wackligen Favela-Nachbau eine bemühte brasilianische Schauspiel-Truppe zu sehen, der man das stete, ermüdende Bemühen ansieht." Bis auf eine Szene in einer Wellblechgarage: "In ihr ist plötzlich alles da, was Castorfs Theater so aufregend, anstrengend, herausfordernd macht: die Wut, die Anarchie, das Maßlose."
Pünktlich zur Berlin-Premiere von "Schwarze Engel" schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (27.6.2007), es kämen diesmal zwar nicht die "routinierten, Castorf auch äußerlich immer ähnlicher werdenden Ekstasefacharbeiter der Volksbühne zum Einsatz", sondern "hochmotiviert brüllende, deutscher Überdrüssigkeit abholde südamerikanische Frischbühnenkräfte". Nützt aber nichts, meint Seidler. Denn "keiner der schnell angeleierten und mit lautem Überdruck und blindem Schwung ausgeführten Regie-Einfälle kommt von selbst ins Rollen, das Geschehen lebt nicht – wie sonst bei Castorf. Das ganze Theater ist ausgedacht, und die Gedanken bleiben trocken."
Spät meldet sich schließlich auch noch Cristina Nord für die taz (29.6.2007) zu Wort. Sie hat zwar durchaus sehenswerte "Augenblicke von Leerlauf, Wiederholung und Nonsens" erlebt, Momente, in denen die Inszenierung zu sich komme. "Doch schon bald setzt das videogestützte Verausgabungstheater wieder ein, das man von Castorf gewohnt ist." Wie eine Maschine nivelliere dann die Inszenierung alles: "die einzelnen Figuren, die so unterschiedlichen Texte von Rodrigues und Müller, das 18. Jahrhundert, Candomblé, Revolutionen, Familienfehden." Heiner Müllers Texte büßten so "alle Dialektik ein". Man frage sich daher, ob Castorf "nicht letztlich doch einer seltsamen, auf Lateinamerika projizierten Romantik von Revolution erliegt."
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