Brustmilch-Attacke auf das Problemstück

2. Juni 2024. Wegen seiner ausbeuterischen Geschlechterpolitik gilt Shakespeares Klassiker längst vielen als unmöglich. Regisseurin Pia Richter sagt: Die geschilderten Verhältnisse sind auch heute nicht aufgehoben, sie haben sich nur verschoben – und schaut für ihre Inszenierung tief in die Abgründe des Trash-TV.

Von Simon Gottwald

 

"Die Zähmung der Widerspenstigen" in der Regie von Pia Richter am Staatstheater Kassel © Katrin Ribbe

2. Juni 2024. Eine Welt aus Plastik und Plüsch: Das ist Padua Island, Schauplatz der neuesten Dating-Show, moderiert von einem ganz besonders offenherzigen Moderatorenpärchen, das seine fingierte Liebesbeziehung genauso zur Schau trägt wie die prächtigen Gummibrüste unter dem Blazer (zahlreiche Janet-Jackson-Nippelblitzer inklusive). 

Wer wird hier gezähmt?

In dieser bis zum Erbrechen künstlichen Welt, in der ständig der Dampf eines Whirlpools wabert, konkurrieren die drei Kandidaten Lucentio, Hortensio und Gremio um die liebreizende Bianca. Dem vermeintlichen Hindernis, dass Biancas ältere Schwester, die "widerspenstige" Katharina zuerst verheiratet werden muss, schaffen ein plötzlicher Todesfall und der damit einhergehende Geldmangel Abhilfe. Da nämlich kommt Petruchia ins Spiel, die für eine stattliche Mitgift bereit ist zu heiraten, wen oder was sie soll.

In der Ehe gibt Katharina den Ton an, ihre "Zähmung" misslingt hier nicht nur, sie wird im Keim erstickt. Nachdem Bianca an einen ihrer austauschbaren Verehrer verheiratet wurde, kommt es zum Aufstand der Frauen. Die Schwestern verprügeln die Moderatoren, bevor sie sich von ihren Eheleuten lossagen.

Dafür, dass ein Shakespeare-Stück gespielt wird, ist auffallend wenig Shakespeare in dem Abend enthalten: ein paar Namen, Reste eines Handlungsgerüsts, hier und da mal ein Dialog. Ersetzt wurde vieles durch Slapstick-Einlagen, in denen ein Piranha einen Finger abbeißt, der später von Katharina verspeist wird. In denen Stürze und Versehen von mehr oder weniger lustigen Geräuschen begleitet werden. In denen die Moderatorin in einer Ramona-Drews-Gedenkminute Brustmilch in Richtung Biancas.... man muss es "verschießt" nennen. Manchmal ist das einen Lacher wert, meistens aber schwankt der Eindruck eher zwischen Befremden und Fremdscham: Muss ein Kandidat wirklich eine der Plüschpalmen beglücken, als wäre er ein lange jeglicher Nähe beraubtes Karnickel?

Gender-Trouble aus dem Trash-TV

Dem Zeitgeist und insbesondere der Ausrichtung des Staatstheaters Kassel (erinnert sei an die Inszenierung von Dirck Lauckes "Singletreff") entsprechend ist das Thema des Geschlechts in all seinen Facetten zentral: Petruchio ist hier, wie schon angedeutet, eine Frau, Hortensio und Lucentio werden von Schauspielerinnen gespielt, die rasch verheiratete Katharina lässt sich nicht herumschubsen, sondern ergreift die Agency, um schließlich sich und ihre Schwester aus den beengenden Verhältnissen der Fernsehsendung zu befreien.

Kuscheln im Uterus: Emilia Reichenbach, Lisa Natalie Arnold, Clemens Dönicke, Zazie Cayla, Nora Quest, Annett Kruschke © Katrin Ribbe

Dies ist leider der zentrale Schwachpunkt der Inszenierung: Es wird davon ausgegangen, dass Bauer sucht Frau, Schwiegertochter gesucht, Love Island, Der Bachelor, Die Bachelorette und wie sie alle heißen ein Kampf der Geschlechter seien. Ein Krieg Mann gegen Frau, in dem die Kandidatinnen ausbeuterischen Verhältnissen ausgesetzt seien, von denen die Kandidaten profitierten. Darum bäumen sich schließlich die Frauen in dieser Inszenierung auf und widersetzen sich den Regeln der monogamen Ehe genauso wie dem Menschenschacher des Kuppelns. Tatsächlich aber sind Sendungen wie Schwiegertochter gesucht in dem Sinne diskriminierungsfrei, dass sie alle Kandidaten gleichermaßen ausbeuten und der Häme preisgeben: Mann und Frau sind nicht mehr als die Spielfiguren einer Sendung, in der es um billige Lacher geht, um Quote zu machen.

Offene Fragen, starkes Ensemble

Hier wurde eine Chance, hochproblematische Verhältnisse zu thematisieren, nicht genutzt – stattdessen wird nur an der Oberfläche gekratzt. Warum konnte es, beispielsweise, nicht zu einer Verbrüderung von Kandidaten und Kandidatinnen kommen, um die Show zu stürzen? Klar, die Kandidaten werden als kaum lebensfähige Hanswurste inszeniert, aber unter der Führung der Frauen wäre eine Revolution möglich gewesen, die auch die anderen Unterdrückten mitnimmt.

Dass hier erheblich Potenzial verschenkt wurde, ist umso bedauerlicher, als das Ensemble unglaublich stark spielt. Annett Kruschke und Clemens Dönicke glänzen als affektierte Moderatoren, Nora Quest und Emilia Reichenbach geben das ungleiche Schwesternpaar Bianca und Katharina mit Überzeugungskraft, Lisa Natalie Arnold ist eine starke Petruchia, und Zazie Cayla, Annalena Haering und Aljoscha Langel spielen das Trio der Bewerber mit einem Ernst, der in aller sich ihrer nicht bewussten Lächerlichkeit steckt.

Auch die Musik, die von Maria Moling und Alexandra Cumfe beigesteuert wird, passt und ist stimmig umgesetzt. Doch all dieser Einsatz der Truppe vermag es nicht, die Inszenierung zu retten.

Die Zähmung der Widerspenstigen
Komödie von William Shakespeare, in einer Bearbeitung von Pia Richter
Regie: Pia Richter, Bühne und Kostüme: Julia Nussbaumer, Komposition: Maria Moling, Dramaturgie: Laura Kohlmaier.
Mit: Annett Kruschke, Clemens Dönicke, Nora Quest, Zazie Cayla, Emilia Reichenbach, Lisa Natalie Arnold, Annalena Haering, Aljoscha Langel, Maria Moling, Alexandra Cumfe.
Premiere am 1. Juni 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

Kritikenrundschau

"Selbst 90 Aufführungsminuten können zu lang sein", konstatiert Bettina Fraschke in der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (3.6.2024) nach diesem Abend. Die Story komme nicht voran, es gebe zu wenige Ideen, kein Gedankenfutter. Dabei gäbe es einges auf der Haben-Seite: Der Gedanke, den Stoff als Reality-TV-Format zu erzählen, sei "durchaus nachvollziehbar in seiner Rigorosität, Menschen zurechtzustutzen". Auch Bühne,  Kostüme und die Musik lobt Fraschke. Allerdings: "Es ist nicht zu spüren, dass sich das Regieteam jenseits der überzeugenden Grundidee gründlicher mit den Fragen nach Geschlechterverhältnissen und Macht in Beziehungen oder gar mit der Vorlage des Shakespeare-Klassikers auseinandergesetzt hätte."

Mit dem Auftritt von Petrucchio, der hier Petrucchia ist, keime Hoffnung auf eine interessante Alternative, so Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (4.6.2024). "Die flackert auch auf, aber nur kurz. 90 pausenlose Minuten verlässt sich das Team letztlich doch darauf, dass der ironische Umgang mit einer absolut unterirdischen Privatfernsehshow kritisch und lustig genug ist." Am Ende werde es noch schnell bierernst. "Katharina ist ungezähmt, heißt es jetzt ausdrücklich, offenbar damit es da wirklich kein Missverständnis geben kann. Kann es nicht, keine Sorge."

Kommentar schreiben