Surfen im Ungewissen

19. November 2022. Gerichtsverhandlung? Schön wärs. Die deutsch-ukrainische Produktion "Putin-Prozess" am Kölner Keller-Theater hat mit ganz anderen Dinge zu tun: Perspektivbefragung, Suche nach den autoritären Zügen in uns selbst und der Frage, ob Haltung letztlich Zufall ist. Das aber macht das Team um Regisseur Andriy May großartig. 

Von Dorothea Marcus

 

Über die autoritären Züge in uns selbst: "Putin-Prozess" am Theater der Keller Köln © Oliver Strömer

19. November 2022. We will rave on Putins grave, steht auf dem Programmheft. Schön wärs. Oder Putin vorher beim eigenen Kriegsverbrecherprozess in Den Haag zu sehen, in Handschellen, sein steif gespritztes Gesicht gedemütigt. Doch bis dahin dauert es noch, und auch im Kölner Theater der Keller ist noch kein Tribunal gegen ihn zu erleben. Die deutsch-ukrainische Produktion "Putin-Prozess" hat nichts mit einer Gerichtsverhandlung zu tun, auch wenn sie mit dieser Erwartung spielt. Sie beschäftigt sich vielmehr mit jenen autoritären Zügen in uns selbst, die uns für Totalitarismus und Machtwahn empfänglich machen.

Welcher Zufall hat uns an unseren Ort gespült, und wie gehen wir mit dieser Konditionierung um? Der Schauspieler Timon Ballenberger kommt auf die Bühne und erzählt von seiner harmlos bundesdeutschen Kindheit in Brunsbüttel. Putin wurde Präsident, als Ballenberger acht Jahre alt war, das Grauen des heutigen Krieges kommen sah er natürlich nicht. Langsam zieht er sich bis auf die Unterwäsche aus und einen Neopren-Surfanzug an, ein Zuschauer soll den Reißverschluss schließen – herrisch steht der Schauspieler vor ihm, eine Wahl hat er nicht. Offenbart sich hier schon autoritäres Verhalten?

Und dann grollt und dröhnt es vom Band, und eine durchpeitschte Ozean-Landschaft taucht auf der Videoleinwand auf. Auf diesem Meer müssen die Darsteller jetzt surfen, auf schwankendem Untergrund, ohne festen Boden. "Wie konnten wir diesen Krieg zulassen? Ich war überrascht, soviel Sowjetisches in meinem Körper zu finden", spricht eine Stimme vom Band. Und Tetiana – bitte nicht Tatiana, russisch, aussprechen – Zigura kommt auf die Bühne, zieht sich ebenfalls einen Surfanzug an, beginnt über Kontrolle zu sprechen, Selbst- und Körperkontrolle – und dabei Ballett zu tanzen.

Putinprozess 1 OliverStroemer uIm Corps de Ballett und im Soldaten-Bataillon: "Putin-Prozess" in Köln © Oliver Strömer

Auf dem Bildschirm werden dazu ein diszipliniertes Corps de Ballet mit einem marschierenden Soldatenbataillon parallelgeschaltet: Für die Präzision und Disziplin seiner großen Ballett-Ensembles, jene so seltsam alterslose Zucht-Kunst ist Russland berühmt – deren gleichgeschalteter Drill tatsächlich Militärformationen nicht unähnlich ist. Was macht diese Körpererziehung mit den Köpfen? Ist hier schon eine Erklärung für die proaktive Unterwerfungsbereitschaft der russischen Gesellschaft zu finden?

Erziehung der Körper und der Köpfe

Und dann kommt Regisseur Andriy May selbst auf die Bühne, zieht sich ebenfalls den Neopren-Shorty an, erzählt von seinen deutschstämmigen Großeltern, davon, wie er in der Schule in Cherson deshalb "Faschist“ genannt wurde und ihm Überzeugungen übergestülpt wurden. Wie er im Jahr 2014 beschloss, kein Russisch, sondern nur noch Ukrainisch zu sprechen und vor wenigen Monaten nach Köln floh, mit kleinem Sohn und kranker Mutter. Und wie er von vermeintlich sicherer Ferne dem Krieg in der Heimat zusieht und fast verrückt wird – der Taxifahrer, der ihn aus dem Land brachte, wurde auf der Rückfahrt erschossen.

Doch dieser Abend handelt nicht in erster Linie von Kriegserlebnissen, sondern davon, wie sich Prägungen unentrinnbar in uns einschreiben. Alles andere ist nur oberflächlich aufgeklebt, so wie Tetianas multilinguale Erfahrung als Show-Sängerin in China, die sie uns mit gekünstelter Pseudo-Fröhlichkeit vorführt und danach zum vermeintlich typisch deutschen "Prosit"- Singen auffordert. Wie aufgefädelt und bewusst gebrochen wirken die Episoden, die sich in "Putin-Prozess" im Theaterraum mit zwei sichtbeschränkenden Säulen aneinanderreihen.

Das Publikum guckt von drei Seiten aus zu, hat nie den ganzen Blick auf die Bildschirme – wo die deutsch-ukrainischen Übersetzungen laufen, manchmal aber auch einfach ein Tunnel zu sehen ist mit einem Licht am Ende, allerdings von einem Tuch verhängt: Erlösung, Rettung vor Russlands endlosen Angriffen, ist dieser Tage für die Ukrainer vermutlich nur schemenhaft zu ahnen. Wie ferngesteuert und lautlos schreiten die Performer durch die Stuhlreihen, wenn die anderen spielen, wie gefangen in einer anderen, philosophischen Wirklichkeit.

Gefährliche Männlichkeit überall

Dann geht das Saallicht an, wird ein Publikumsgespräch nachgestellt und diskutiert über ukrainisch-existentielle und deutsch-kostenbesorgte Perspektiven auf den Krieg. Um wiederum eine Theater-Missbrauchsszene zwischen Regisseur und Darsteller nachzustellen. Irgendwann vergewaltigt Ballenberger Tetiana Zigura von hinten, die dabei schreit wie eine Möwe – ein Bild toxischer Männlichkeit, eingepflanzt in kleine Jungen und immer schön weitergegeben. Und ist das Möwengeschrei nicht auch eine Anspielung auf Tschechow, der nun ebenfalls zur Geisel des russischen Imperialismus geworden ist?

Putinprozess 3 OliverStroemer u"Putin-Prozess" © Oliver Strömer 

Irgendwann ist auf einer der Leinwände auch Putin selbst zu sehen. Wie eine ferngesteuerte Monsterpuppe bewegt er seinen Mund, während er seine Kriegsrede vom 24. Februar spricht. Blutrot leuchten die Menschen verachtenden Doppelbotschaften nochmal als Text nach. Der Patriarch Kyrill folgt sogleich, faselt vom heiligen Bruderkrieg und der Opferbereitschaft als beste aller menschlichen Eigenschaften. Und dann schwärmt auch noch eine Moderatorin von der paradiesischen Aussicht auf den Atomkrieg. Wie dieser Grad der Perspektivverschiebung erreicht werden kann, wird als mögliches menschliches Spektrum fast schon ungläubig vorgeführt.

Nur nicht zu lange drüber nachdenken, in glitzernden Liberty-Kostümen springen die Performer herein, raven entrückt und weltvergessen im Namen der westlichen Freiheit, spiegeln uns selbst, um gleich darauf wieder hektisch Nachrichten und Fakten zu verlesen, die fassungslos machen. Unter anderem etwa die Karriere des Ex-Stasi-Agenten und heutigen Millionärs Matthias Warnig, bis vor Kurzem noch Gazprom- und Nordstream-Chef, topvernetzt und bestens mit Putin befreundet. Oder die von über 300.000 deportierten ukrainischen Kindern. Und dann wird der Nachrichten-Overkill doch wieder zu schlichten Papierfliegern, gefaltet von Zigura, die zum Schluss allein Tee trinkend am Tisch sitzt.

Sind Haltungen letztlich Zufälle?

In krassen Brüchen ändern sich in "Putin-Prozess" ständig die Perspektiven, schwanken die Meinungen, öffnen sich Abgründe, um sich als banale Oberflächen wieder zu schließen. Wir alle sind manipulierbar im Prozess unserer Menschwerdung, unsere Haltungen letztlich Zufälle: universelle Werte gibt es nicht. Das wirkt als Erkenntnis einerseits erschreckend, aber auch ein wenig banal. Etwas zu beliebig und zusammenhanglos werden Meta-Ebenen, verrätselte Bilder, allgegenwärtige Nachrichten an diesem Abend aneinandergereiht. Und doch bleibt am Ende das Bild der drei entrückten Surfer auf dem Meer der Meinungen zurück: solange sie geschmeidig an der Oberfläche weitersurfen, läuft alles glatt und sicher, ist jede Überzeugung gesichert und der Boden fest. Doch direkt darunter lauert der Untergang eines jeden.

Putinprozess
Regie und Bühne: Andriy May, Kostüme: Kateryna Markush, Choreographie: Viktor Ruban, Video und Sound: Yevhen Yakshin, Dramaturgie: Ulrike Janssen.
Mit: Timon Ballenberger, Andriy May, Tetiana Zigura.
Premiere am 18. November 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

theater-der-keller.de

 

Kritikenrundschau

"Vom schmerzhaften Bewusstwerden, wie viel des sowjetischen Denkregimes sich noch in den eigenen Körper gefräst hat, berichtet May", so Brigitte Schmitz-Kunkel in der Kölnischen Rundschau (22.11.2022). "Von blinden Flecken, Selbstkontrolle, Anpassung." Dabei sei der Abend kein Tribunal; "es geht um den schwierigen Prozess, sich in einem unentwegt ändernden Szenario zu orientieren. Was können wir tun?" Am Ende blieben rohe Fakten, aber auch Tetianas Kraft: "Dream a little dream of me".

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