Ein Ermordeter aus Warschau - Kunstfest Weimar
Höchst unkomfortabel
1. September 2024. Max Czollek gibt keinen Dispens. Sondern bohrt in den Wunden der deutschen Erinnerungskultur. Gemeinsam mit der Berliner Opernkompanie Novoflot, Regisseur Sven Holm und Komponist Michael Wertmüller wird Arnold Schönberg neu verfasst: "Ein Ermordeter aus Warschau". Als gleißendes Fanal am Geschichtsort Weimar.
Von Georg Kasch
1. September 2024. Wütend ist Max Czollek vor seinem Mikrofon. Weil seine deutsche Heimat ein gewaltvoller Ort ist. Weil nicht nur die Zeitzeug:innen der Shoah verschwinden, sondern auch die Täter:innen, ohne je bestraft worden zu sein. Weil es eine Rückkehr zur Normalität nicht geben kann – und so viele im Land sich genau das wünschen. Deshalb fordert er eine Ergänzung in der Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes: "Es wird nie wieder alles gut."
Das ist offenbar nicht Arnold Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau" von 1947, ein knapp achtminütiger Aufschrei für Sprecher, Männerchor und Orchester, der von der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto 1943 erzählt. Sondern "Ein Ermordeter aus Warschau", ein sperriger Abend, der Schönbergs Melodram zur Folie nimmt, um von deutscher Erinnerungskultur und deutschen Erinnerungslücken zu erzählen.
Spöttisch, provokant, belehrend
Der Abend besteht aus drei Teilen, zusammengehalten von Sven Holms Regie und Nina von Mechows Bühne: links ein Fotostudiosetting mit Pausen-Tisch, rechts ein Orchesterpodest mit Instrumenten. Zunächst proben Musiker:innen an Schönberg-Werken wie "Erwartung" herum. Dazwischen erzählt Rosemary Hardy von der Melancholie des Kriegs, Ichi Go von der Unmöglichkeit des Übersetzens und Noa Frenkel empfiehlt, nicht mehr an die Menschen zu glauben, dann würden sie glücklich. Das plätschert etwas unterspannt vor sich hin und man muss schon sehr aufpassen, um die Spuren zum Thema nicht zu verfehlen, die sich erst später einlösen.
Danach kommt Czollek, und so verständlich seine Wut auch ist, so wirkt sie hier doch, derart spöttisch, provokant und belehrend vorgetragen, ziemlich herausfordernd. Aber klar, der gesamte Abend will höchst unkomfortabel sein – nirgends ein Einverständnis, eine Umarmung, ein Das-stehen-wir-jetzt-gemeinsam-durch. Im dritten Teil nämlich kommt statt Schönberg, auf den bis dahin eigentlich alles hinausläuft, Michael Wertmüllers sperrige Komposition aufs Pult, die sich mit Schmackes an den Avantgarden (also auch Schönberg) abarbeitet.
Max Czollek wider das "Gedächtnistheater"
Wertmüller, der für seine Musiktheaterwerke mit Dramatiker:innen wie Lukas Bärfuss, Rainald Goetz und Dea Loher (etwa Weine nicht, singe 2015) und Regisseuren wie Herbert Fritsch (Valentin 2017) kooperiert, kann auch anders, ironisch, schelmisch, leichtfüßig. Hier aber reiben sich E-Bass und E-Gitarre wild an Streichern und Klavier, treiben einander und die drei Sängerinnen in den rhythmisch taumelnden Lärmrausch. Kurze Ruheinseln gibt es, ein Tänzeln hier, ein Arpeggio-Schwelgen da. Dann kracht's wieder los, noch unerbittlicher, konsequenter.
Die älteren, tapfer ausharrenden Kulturbürger:innen im mäßig gut verkauften Saal der Redoute bekommen keine Läuterung oder Katharsis jedweder Art.
Nur versteht man dabei nichts von Czolleks Text, der es in sich hat, aber nur manchmal und viel zu kurz eingeblendet wird. Schon in seinem Buch "Desintegriert Euch!" lautete seine These, dass das deutsche "Gedächtnistheater" um die Schoah allein der Entlastung der Deutschen von ihrer historischen Schuld dient. Jetzt treibt er das auf die Spitze, wenn er im Libretto begründet, warum wir uns so gerne mit den Überlebenden auseinandersetzen und nicht mit den Ermordeten (daher auch der Titel): Weil wir die Geschichte der Toten nicht ertragen und weil "wir doch stets / an das Gute im Menschen glauben". Was dann gar nicht so weit weg ist vom "Guten, Wahren, Schönen" der Weimarer Klassik, auf die sich ja teilweise auch das Kunstverständnis der AfD beruft. Und das wenige Stunden vor der thüringischen (und sächsischen) Landtagswahl, in jener Stadt, in der nicht nur der Idealismus blühte, sondern auch das KZ Buchenwald mahnt, wozu Menschen fähig sind.
Hinein ins Überforderungstheater
Aber genau hier liegt auch die Krux dieses Abends, der weder sich noch uns Dispens gibt. Nie hat es einem die Berliner Opernkompagnie Novoflot leicht gemacht, hat lieber einen Gedanken zu viel eingebaut als einen zu wenig; oft ging das auf, zuweilen aber auch auf Kosten der Sinnlich- und Nachvollziehbarkeit. In Berlin mag das gehen, in Köln und vermutlich auch beim koproduzierenden Musikfestival Bern. Aber in Weimar, in dieser kritischen Situation? Da bekommen die älteren, tapfer ausharrenden Kulturbürger:innen im mäßig gut verkauften Saal der Redoute keine Läuterung oder Katharsis jedweder Art. Nur Überforderung in Sachen Sprache (im ersten Teil Englisch mit eher kleinen Übertiteln), Dramaturgie und Komposition.
Ja, sie sind da, die Spuren, die sich lesen und deuten lassen. Etwa in Filmbildern, die eine diverse Gemeinschaft am Kaffeetisch zeigen, mal lachend, mal wütend, mal trauernd. Wegen uns? Oder in Czolleks Libretto, das man wunderbar diskutieren könnte und müsste. Über Anne Franks Glauben an das Gute im Menschen (und ihren vielleicht auch damit zusammenhängenden Status in der Erinnerungskultur), über das Unheimliche in Matthias Claudius' zitiertem "Abendlied". Oder über das Bild der Verbrennungsöfen, dass sich in diesem Kontext aus den eigentlich harmlosen "Somewhere over the rainbow"-Versen schält: "High above the chimney tops, that's where / You'll find me". Man müsste das nur akustisch verstehen oder in Ruhe nachlesen und dann besprechen können.
Gibt's aber nicht. Sondern höflichen Applaus.
Ein Ermordeter aus Warschau
von Michael Wertmüller (Komposition) und Max Czollek (Text)
Regie und Konzept: Sven Holm, Musikalische Leitung: Vicente Larrañaga, Ausstattung: Nina von Mechow, Dramaturgie & Konzept: Malte Ubenauf, Video: Rebecca Riedel.
Mit: Max Czollek, Rosemary Hardy, Noa Frenkel, Ichi Go, Simon Stockhausen, Johnny La Marama (Peter Meyer, Chris Dahlgren, Eric Schaefer), ensemble dissonArt (Theodoros Patsalidis, Andreas Papanikolaou, David Bogorad, Vassilis Saitis, Lenio Liatsou); im Video: Maxime Barbasetti, Henriette Bothe, Hayden Chisholm, Altea Garrido, Aminata Toscano.
Koproduktion Kunstfest Weimar, Musikfestival Bern, Kühlhaus Berlin, WDR Funkhaus/Kölner Philharmonie
Uraufführung am 31. August 2024 in Weimar
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.kunstfest-weimar.de
novoflot.de
Kritikenrundschau
Es scheint, als traue Czollek "Schönbergs ikonischem Stück ein Aufrütteln nicht mehr zu", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1.9.2024). Der Abend gereiche "zu gar nichts". Die Beteiligten machten zwar mitunter "tolle, autonome Musik", näherten sich aber dem Gegenstand auf "meist selbstironische, also vollkommen unverbindliche, mitunter ärgerlich läppische Weise", seufzt der Kritiker.
Von Verständnisschwierigkeiten berichtet Joachim Lange in der Ostthüringer Zeitung (3.9.2024). Eindruck machte für ihn weniger die inszenatorische, denn die musikalische Arbeit: Wertmüllers Komposition ist "souverän mit dem Verstörungspotenzial der Avantgarde verbunden, greift aber weiter aus. Ihre Wucht ist suggestiv, fesselt, mit dem, was sie meint, auch wenn man die Worte nicht versteht. Hier treten Streicher über die Grenzen und gegen Schlagwerk und Elektronik an, verbünden sich und gehen auf die Zeit, ihre Verwerfungen und die Zuschauer los. Das ist atemberaubend, steht für sich und lohnt den hybriden Abend dann doch. Auch wenn er ansonsten viel guten Zuschauerwillen einfach unterstellt."
Dieser Musikabend "hinterfragt künstlerisch klug sowohl die Bedingungen von Erinnerung als auch ihre gesellschaftliche Instrumentalisierung", schreibt Eva Marburg in ihrer Kolumne für den Freitag (3.9.2024) und berichtet von einer faschistischen Beleidigung gegen das Produktionsteam in der Nacht nach der Weimarer Premiere.
Als "befremdlich" watscht Jakob Hayner von der Welt (4.9.2024) den Abend in seinem Überblickstext zum Weimarer Kunstfest ab. Der Anspruch, für die Ermordeten von Warschau oder Auschwitz bis Babyn Jar zu sprechen, wirke "schlicht unangemessen". Dem Kritiker drängt sich "der unangenehme Eindruck auf, dass sich hier einer kräftig verhoben hat – und mit allzu viel Selbstbezug bei diesem politischen Musiktheater an der Grenze zur Geschmacklosigkeit gelandet ist".
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
- 04. Oktober 2024 Deutscher Filmregisseur in russischer Haft
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
neueste kommentare >