Kommentar: Sonja Anders wird Intendantin in Hamburg
Modell "Nummer sicher"
18. Januar 2023. Sonja Anders wird ab 2025 Intendantin des Hamburger Thalia Theaters. Was soll da schiefgehen? Mit der gebürtigen Hamburgerin und derzeitigen Intendantin des Schauspiels Hannover entscheidet sich die Kulturpolitik für Kontinuität. Genau darin liegt aber auch ein Problem.
Von Falk Schreiber
18. Januar 2023. Intendantin am Hamburger Thalia Theater: Es gibt unangenehmere Arbeitsstellen als diejenige, für die Sonja Anders heute in der hauseigenen Theaterbar Nachtasyl vorgestellt wurde. Denn Joachim Lux, der die Bühne seit 2009 leitet, hinterlässt seiner Nachfolgerin ein gut bestelltes Haus: Künstlerisch wie wirtschaftlich erfolgreich, ohne nennenswerte Skandale.
Selbst die postpandemische Publikumsdelle, die praktisch alle Theater belastet, konnte verhältnismäßig schnell ausgeglichen werden: Lux verweist nicht ohne Stolz gerne auf seine besonders treuen Zuschauer*innen. Immer wieder wurde das Thalia zum Berliner Theatertreffen eingeladen, es gibt regelmäßige Zusammenarbeiten mit Regisseur*innen wie Kirill Serebrennikow, Ewelina Marciniak und Amir Reza Koohestani, die das Haus international verorten. Zudem meisterte Lux das Kunststück, mit der Leitung des Festivals Theater der Welt 2017 die Brücke zwischen Staatstheater und freier Szene zu schlagen. Läuft. Anders kann sich darauf freuen, 2025 an die Alster zu ziehen.
Kein wirklich neuer Lebensabschnitt
Ein wirklich neuer Lebensabschnitt beginnt für die heute 57-Jährige freilich nicht. Sonja Anders wurde 1965 in Hamburg geboren, hier studierte sie Germanistik, hier übernahm sie erste Dramaturgien im Produktionshaus Kampnagel und am Deutschen Schauspielhaus. Nach einer Anstellung am Schauspiel Stuttgart kam sie 2000 erstmals ans Thalia, als Dramaturgin bei Ulrich Khuon, ab 2005 als Chefdramaturgin: eine Position, in der sie ihrem Chef 2009 ans Deutsche Theater Berlin folgte. Seit 2019 ist Anders Intendantin am Schauspiel Hannover – im Übrigen der Job, von dem aus Khuon 2000 ans Thalia wechselte. Die Entscheidung für Anders ist also eine Entscheidung für Kontinuität. Übrigens sogar familiär: Die Chefdramaturgin in Hannover, die als Leitungsmitglied mit nach Hamburg wechseln wird, ist Nora Khuon, Tochter von Anders' Ex-Chef Ulrich Khuon. Warum auch nicht?
Firm in identitätspolitischen Diskursen
Wenn man sich den Spielplan in Hannover anschaut, dann stellt man eine gewisse Vorliebe für avanciertes Regietheater fest, durchaus skeptisch gegenüber dem Dramentext, aber ohne allzu radikale Ausbrüche in Postdramatik und Performatives. "Nette Postmoderne" nannte man das einmal bei Khuon, und Anders führt diese ästhetische Spur weiter, mit einem Blick für die Eigenarten einer zunehmend diversen Stadtgesellschaft: dass im Hannoverschen Ensemble auch Namen wie Florence Adjidome, Servan Durmaz und Anja Herden auftauchen, beweist ein Gespür dafür, dass Sprechtheater im 21. Jahrhundert nicht mehr unbedingt weiße Hautfarbe und akzentfreie Sprache bedeuten muss. Und dass Anders, die firm ist in feministischen und identitätspolitischen Diskursen, von Anfang an viel Raum für weiblich gelesene Stimmen in ihrem Haus schuf, ist ein Unterschied zu Lux, der recht lange nicht verstand, dass es nicht nur ein arbeitspraktisches, sondern auch ein ästhetisches Problem ist, wenn auf der Hauptbühne kaum Frauen inszenieren (wobei Lux hier allerdings in den vergangenen Spielzeiten gegenzusteuern wusste). Dass die Intendantin, die Hamburg wie beschrieben sehr gut kennt, auf stadtsoziologische Bruchlinien achten wird, darf man annehmen.
Einfacher Weg
Dennoch ist die Entscheidung für Kontinuität nicht unproblematisch. Die Findungskommission – bestehend aus Kultursenator Carsten Brosda, dem stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Heinrich Bethge, den Aufsichtsratsmitgliedern Ute Pape, Esra Küçük und Julian Greis sowie den Münchner und Düsseldorfer Intendant*innen Barbara Mundel und Wilfried Schulz – geht mit Anders einen sehr einfachen Weg, das Publikum wird sich nicht nennenswert umstellen müssen. Aktuell prägende Regisseur*innen in Hannover sind etwa die derzeit auch am Thalia präsenten Stefan Pucher und Anne Lenk. Stephan Kimmig inszenierte unter Khuon viel in Hamburg – falls diese Theatermacher*innen mitkommen (zumindest Lenk ist von Anders auch als Mitglied der Theaterleitung vorgesehen), dürfte sich wenig ändern. Zudem hat Anders' Dramaturgie auch Kontakte in die freie Szene der Hansestadt geknüpft, Mable Preach oder die Choreografin Antje Pfundtner zeigen ihre Arbeiten in Hannover. Und Regisseur*innen aus dem Anders-Umfeld wie Marie Bues, Lisa Nielebock oder Lilja Rupprecht sind zwar an der Elbe noch unbekannt, dürften das Publikum aber ästhetisch kaum nachhaltig verstören. Alles wie gehabt also.
Große Erfolge, keine Probleme
Das Thalia gilt neben dem Deutschen Schauspielhaus als das solidere der beiden großen Hamburger Sprechtheater, vielleicht auch als das weniger risikofreudige. Inwiefern dieses Klischee tatsächlich der Wahrheit entspricht, darüber kann man diskutieren, tatsächlich aber bestätigt die Entscheidung für Lux' Nachfolge die Erwartungen. Die neue Intendantin kennt das Haus und die Stadt gut, sie hat Erfahrung, sie tickt künstlerisch ähnlich wie der Vorgänger – was kann da schiefgehen? Zum Beispiel, dass Kunst immer auch ein Tanz auf Messers Schneide ist, zum Beispiel, dass spannendes Theater spektakuläres Scheitern immer mit einrechnet.
Der als Kulturpolitiker gefeierte Brosda kann mit Scheitern allerdings wenig anfangen: Seine meisten Personalentscheidungen umgingen bislang Risiken, einzig die Neubesetzung der Staatsopern-Intendanz ab 2025 mit Tobias Kratzer ist eine Überraschung, ansonsten denkt die Politik hier in sehr langen Linien. Mag sein, dass Brosda nicht im gleichen Jahr noch eine potenziell problematische Personalie in der Stadt haben möchte – Anders jedenfalls ist das Modell "Nummer sicher". Es wird spannendes Theater am Thalia zu sehen geben, es wird große Erfolge geben, das Thalia darf weiter damit rechnen, regelmäßig beim Berliner Theatertreffen präsent zu sein, manchmal geht vielleicht auch was daneben. Das ist so, wie schon zu Lux' Zeiten. Womöglich wird es ein bisschen langweilig werden.
Falk Schreiber, geboren 1972 in Ulm. Redakteur bei "tanz - Zeitschrift für Ballett, Tanztheater und Performance", schreibt regelmäßig aus Hamburg, Berlin und Norddeutschland, lehrt und ist Mitglied diverser Fachjurys. Foto: Bernd Völkel
www.falkschreiber.com
Medienschau
Sonja Anders gelte als ruhige, zurückhaltende Theaterleiterin, schreibt Simon Strauss auf Faz.net (18.1.2023). Ihr Programm in Hannover hat sie unter anderem unter den Schlagwörtern Offenheit, Diversität und Gleichberechtigung gestaltet. Dass mit ihr unter anderem die Regisseurin Anne Lenk ans Haus komme, ist für Strauss eine freudige Überraschung.
"In ihrer ersten Saison machte die Pandemie ihren Spielplan zu Makulatur. Trotz dieser denkbar mühsamen Startbedingungen steht ihr Haus mit hervorragenden Zuschauerzahlen, Einladungen zum Berliner Theatertreffen und hochkarätigen Kooperationspartnern glänzend da", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (19.1.2023). Ihre Karriere sei von sehr langen, vertrauensvollen Arbeitsbeziehungen geprägt. "Das will sie am Thalia mit zwei langjährigen Arbeitspartnerinnen fortsetzen." Und damit werde das Thalia-Theater zum ersten Mal in seiner 180-jährigen Geschichte von einer Frau und einem weiblichen Team geleitet. Auch am Thalia-Theater "kann man bei den Führungsinstrumenten ein bisschen nachbessern", zitiert Laudenbach die designierte Intendantin. Dazu gehöre die Frage, wie Vertreter von Ensemble und Technik in die Theaterleitung eingebunden werden könnten.
Anders kündigt für das Thalia einen Kurswechsel an, der allerdings nicht radikal sein werde, sondern auf den Stärken des Hauses aufbauen wolle, so Stefan Grund in der Welt (19.1.2023). Zudem kündigte Anders an, das Haus diverser und internationaler aufzustellen. "Mein Team und ich stehen für ein solidarisches, offenes Theater, eines, das konkret Menschen spürbar macht und sich energetisch seinem Publikum zuwendet", wird Anders zitiert. Ihre Suche gelte einer sinnlichen und kraftvollen Kunst, "intuitiv erfahrbar und zugänglich". Zu Beginn ihrer Intendanz soll der Gerhart Hauptmann Platz im Rahmen eines Festivals bespielt werden. "Zu weiteren inhaltlichen Plänen wollte sich Anders derzeit noch nicht äußern. Zunächst werde sie Gespräche mit allen Schauspielern und mit allen anderen Abteilungen am Haus führen."
"Ich habe mich durch die Intendanz ein bisschen freigeschwommen. Meine Auffassung ist eine, die sich sehr mit der Stadt auseinandersetzt, sicherlich auch mit den Gegensätzen von Städten, mit Strukturen in den Städten und diesen setze ich gerne auch Menschen-Geschichten entgegen", so Sonja Anders im Interview mit dem NDR (19.1.2023) am Tag nach der Ernennung. Das Thalia Theater sei für Anders ein wunderbares Theater mit einem extrem starken Ensemble, aber auch einer wirklich gut gelaunten Mitarbeiterschaft. "Das habe ich jetzt wieder festgestellt und das macht schon Freude."
(faz.net / sueddeutsche.de / ndr.de / welt.de / sik)
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr debatten
meldungen >
- 10. September 2024 Tabori Preis 2024 vergeben
- 10. September 2024 Theaterpreis des Bundes 2024 vergeben
- 10. September 2024 Fabienne Dür wird Hausautorin in Tübingen
- 10. September 2024 Saarländisches Staatstheater: Michael Schulz neuer Intendant
- 08. September 2024 Künstlerin Rebecca Horn verstorben
- 08. September 2024 Österreichischer Ehrenpreis für David Grossman
- 04. September 2024 Görlitz, Zittau: Theater will seinen Namen verkaufen
- 02. September 2024 Trier: Prozess gegen Ex-Intendant Sibelius eingestellt
neueste kommentare >
-
Empusion, Lausitz Weitere Kritiken
-
Essay Osten Bürgerliches Kunstverständnis
-
Essay Osten Kuratieren im Osten
-
Hamlet, Wien Zumutung
-
Sachsens Kultur Ich wünsche ...
-
Leserkritik Vorhang Auf, Rendsburg
-
Nathan, Dresden Unterschätze nicht den Kasper!
-
Nathan, Dresden Verbaute Sicht
-
Hamlet, Wien Welche Warnung?
-
Don Carlos, Meiningen Kraftvoller Opernabend
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
ist die Einlassung "Noch im vergangenen Jahr mussten viele Vorstellungen wegen fehlenden Kartenabsatzes abgesagt werden. " in Kommentar #7 von "Abomuffel" inhaltlich verifizierbar?
(Sehr geehrte Nachfrage, die HNA berichtete im Januar 2022 über die gehäufte Absage von Vorstellungen wegen mangelnden Publikumszuspruchs. Ein Problem, das während der Corona-Pandemie allerdings viele Häuser betraf. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Alles ganz unterschiedliche Dinge. Es aber so allgemein wie Sie zu propagieren klingt mir dann doch zu sehr nach Bonner Republik: "Frauen können nicht Polizistinnen sein". Geht's noch undifferenzierer? Da scheint die Inszenierung doch einen interessanten Nerv getroffen zu haben, ob es Ihnen nun gefällt oder nicht (ich hab sie nicht gesehen, aber jetzt hab ich plötzlich Lust). Apropos Lust: warum hat man bei manchen hier das Gefühl, Theater sei eine bitterernste Sache, bei der nur Perfektion und die Reproduktion der eigenen Meinung und des eigenen Geschmacks im Vordergrund stehen sollten? Indem man eine angebliche "rot-grüne" Politisierung des Theaters unterstellt, politisiert man doch erst recht - und greift dabei indirekt auch noch den Kunstfreiheits-Begriff an. Es steht dem Team frei, sich für eine weibliche Besetzung zu entscheiden. Man muss das ja nicht gut finden - aber es durch solche Polemik gleich in die Sphäre des Politischen zu zerren, DAS ist ein Angriff auf die Kunstfreiheit. Auch noch unter dem Deckmantel der vorgetäuschten Neutralität. So geht's nun wirklich nicht.
Nils Wendtland / Schauspiel Hannover
(Anm. Redaktion. Eine spekulative Einlassung geppaart mit Pauschalismen ist aus diesem Kommentar entfernt worden.)