Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war - Wolfgang Behrens über einen handgreiflich ausgetragenen Urheberstreit
Wie ich einmal für Barbara Brecht-Schall aufstand
von Wolfgang Behrens
10. März 2015. Ich habe keine Ahnung, was die Brecht-Erben damals geritten hat. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätten – wie sie's in solchen Fällen doch nun mal zu tun pflegen – die Aufführungsrechte verweigert. Es hätte dann jedenfalls eine Prügelei weniger gegeben, und ich hätte mir nicht von der Zeitschrift Theater der Zeit nachsagen lassen müssen, mich über "freien Umgang mit Text und Publikum" zu empören.
Ähm – worum geht's überhaupt? Um Christoph Schlingensief natürlich, diesen pain in the ass des Textwerk-zentrierten Theaters, dem man am Berliner Ensemble 1997, als Brecht nicht etwa 70 Jahre tot, sondern seit 100 Jahren lebendig war, rätselhafterweise die Uraufführung eines Brecht-Fragments anvertraute: "Die letzten Tage der Rosa Luxemburg". Ha!, Uraufführung. Wohl kaum! Da tauchten zuerst einmal zwei der Schlingensief-Darsteller mit Behinderung auf – Werner Brecht (ja, der hieß Brecht) und Achim von Paczensky –, lasen Brecht-Text (Bertolt Brecht in diesem Fall) und stritten sich darüber, ob sie es richtig machten. Auch Margarita Broich, Martin "Arturo Ui" Wuttke, Volker Spengler als Sumo-Ringer, der Dramaturg Carl Hegemann im neckischen Husaren-Kostüm sowie natürlich Schlingensief selbst waren alsbald mit von der Partie, um eine lustige, alles in allem aber nicht besonders texttreue Show abzuziehen.
In der dritten und letzten Aufführung war es dann soweit: Barbara Brecht-Schall saß auf dem Rang. Schlingensief hatte schon an den ersten beiden Abenden über die "liebe Oma" gespottet, nun wandte er sich direkt an sie und meckerte über ihren Werktreue-Begriff und ihre Praxis der Rechtevergabe. An dieser Stelle ist meine Erinnerung leider etwas nebelverhangen, aber ich meine, Frau Brecht-Schall hätte sogar geantwortet, mit klarer würdiger Stimme. (Sollte sie nicht geantwortet haben, müsste ich mich fragen, woher ich das mit der klaren würdigen Stimme habe.) Bevor jedoch Broich-Wuttke-Spengler wieder mit der Rosa-Luxemburg-Exekution fortfahren konnten, stand plötzlich ganz links im Parkett ein Mann auf und gab Barbara Brecht-Schall nachdrücklich recht. Hier erlaube ich mir, zur Auffrischung meines Gedächtnisses eine zeitgenössische Quelle zu zitieren, nämlich Theater der Zeit 9/1997: "Schlingensief beschimpft den Brecht-Knappen daraufhin als 'Verwaltungsdirektor', gar mehrfach als 'Arschloch'. Schließlich springt er von der Rampe, zerrt den Herrn aus der Reihe und will ihn rausschmeißen."
Das Publikum jedenfalls johlte, denn Schlingensiefs Attacke war körperlich wirklich ziemlich heftig. Da freilich trat meine mittig sitzende Wenigkeit auf den Plan mit einer Maßnahme gegen die Gewalt: Ich erhob mich und forderte "Christoph" energisch auf, solche auf dem Faustrecht beruhenden Akte zu unterlassen. (Wobei ich vermutlich eher so etwas wie: "Christoph, das finde ich jetzt aber echt nicht okay" gestammelt habe.) Meine Intervention hatte indes gleich die nächste zur Folge: Die Schauspielerin Iris Erdmann, ganz rechts neben ihrem Gatten Henning Rischbieter sitzend, stand nun ebenfalls auf und äußerte etwas Dahingehendes, dass sie es absolut in Ordnung finde, wenn ein Künstler mal einen richtigen Rappel kriege. Ich sagte "Nein!", sie: "Doch!", und so ging es wie in einem Louis de Funès-Film noch einige Male hin und her. Zu guter Letzt entschuldigte sich Carl Hegemann im Namen des Berliner Ensembles, und Schlingensief entschuldigte sich auch, nahm die Bezeichnung "Arschloch" aber ausdrücklich nicht zurück.
Wilde Zeiten! Gestern nun fand die letzte der Castorf'schen Baal-Aufführungen im Residenztheater München statt, weil die Brecht-Erben mittlerweile wieder schlauer sind und die Rechte mal eben schnell entziehen. Davon, dass Barbara Brecht-Schall die Vorstellung besucht habe, wurde nichts verlautet. Und auch Castorf ist wohl nicht von der Bühne herabgestiegen, um sich mit einem der Zuschauer zu prügeln. Eigentlich hat es ja etwas Gutes, wenn man solche Streitigkeiten heute wieder vor Gericht austrägt, und nicht – wie in den gesetzeslosen 90ern – per Hauen und Stechen. Obwohl, ehrlich gesagt: Manchmal sehne ich mich ja doch danach, dass ein Künstler mal wieder so einen richtigen Rappel kriegt.
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin.
Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 80er und 90er.
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Ich war - warum auch immer - in allen drei Aufführungen von "Rosa Luxemburg", und nur in der letzten gab es diesen Vorfall. Ich habe das als Indiz dafür genommen, dass der Streit nicht inszeniert war, aber ein Beweis ist das natürlich nicht. Ich habe übrigens auch später einmal mit Carl Hegemann über diesen Abend gesprochen, und auch er hielt die Sache für "echt".