Sopro - Wiener Festwochen
Vor allem nicht sterben. Nicht sterben!
Von Gabi Hift
Wien, 7. Juni 2019. "Sopro" ist portugiesisch und heißt "Hauch" oder das Blasen des Windes. Wind weht auch auf der Bühne. Es hat noch nicht angefangen, aber sie ist schon da: eine kleine grauhaarige Frau, ganz in schwarz gekleidet, mit einem Textbuch in der Hand. Sie inspiziert die Bühne, Gras wächst aus den Ritzen der Bretter, eine einsame rote Chaiselongue steht da im Wind. Il souffle, der Atem, sopro, souffle, das ist sie, die Souffleuse, Christina Vidal, seit 40 Jahren am Teatro Nacional in Lissabon, die Heldin des Stücks von Tiago Rodrigues.
Anekdoten, die zum Leben erwecken
Der Beruf der Souffleuse stirbt überall aus, deshalb hat Rodrigues solange auf Christina Vidal eingeredet, bis sie ihn endlich aus ihren Erinnerungen ein Stück schreiben ließ. Und er hat sie dazu gebracht, zum ersten Mal aus der Dunkelheit des Souffleurkastens und der Seitengassen herauszukommen und selbst auf der Bühne zu stehen. Aber auch im Licht agiert sie beim Spielen ihrer eigenen Geschichte als Souffleuse. Sie arrangiert die fünf Schauspieler*innen des Ensembles immer so, wie sie sie für die jeweilige Szene braucht, die sie erzählen will, stellt sich dann hinter sie und murmelt ihnen den Text ins Ohr. Beim Nachsprechen verwandeln sich die Schauspieler*innen in die Figuren – als sei das das Selbstverständlichste der Welt.
Im Flüstern begründet: die Kunst des Theaters © Filipe Ferreira
Alles beginnt mit der Diskussion, in der der Direktor Christina Vidal überredet, das Stück zu spielen. Dann erzählt sie von ihrem Leben: wie ihre Tante sie als Kind ins Theater mitgenommen hat und wie die Intendantin ihr erlaubte, in den Souffleurkasten zu kriechen und von dort aus zuzuschauen. Wie sie, fünfzehn Jahre später, bei derselben Intendantin als Souffleuse zu arbeiten angefangen hat. Christina Vidal erzählt kleine Geschichten von Situationen, in denen sie den Schauspieler*innen helfen musste, und dabei erwachen die Szenen von damals zum Leben: Maschas Schmerz, als Werschinin abreist; der Streit zwischen Antigone und Ismene; Harpagons Paranoia, und viele andere. Christina Vidal erzählt auch die Geschichte der Intendantin, die den schrecklich eitlen jungen Heldendarsteller liebt. Die immer mehr von ihrem Schmuck versetzt, um die Schulden des Theaters zu bezahlen, und die schließlich eine lebenswichtige Operation verschiebt, weil ihr die nächste Premiere wichtiger ist. Bald darauf stirbt sie.
Verwandelt durch den fremden Atem
Die Art, in der diese Geschichten ineinanderfließen, wie die Schauspieler*innen sich in immer neue Figuren verwandeln, ohne sich im Mindesten zu verstellen, als gäbe es keinen Unterschied zwischen Fremdem und Eigenem, zwischen dem ironischen Zitieren eines Textes und der vollkommenen Anverwandlung, als sei es das Einfachste von der Welt, zu jemand anders und dabei gleichzeitig vollkommen man selbst zu werden, wenn einem jemand einen Text ins Ohr flüstert und man sich durch den fremden Atem verwandeln lässt – das ist reine Magie. Als Zuschauer beginnt man bald, selbst mitzuatmen mit dem wunderbar weichen und rauen, melodiösen Portugiesisch, und das alles wirkt so leicht und beiläufig, dass man kaum bemerkt, hier einem Wunder beizuwohnen.
Liest sonst die Geschichten anderer, erzählt hier ihre eigene: die Souffleuse Christina Vidal © Filipe Ferreira
Man könnte meinen, Tiago Rodrigues müsse ein uralter Mann sein – das Stück ist weise und heiter, es erinnert an Pessoa und Pirandello und Fellini –, aber er ist gerade erst 40 Jahre alt, der jüngste Intendant, den es am Teatro National Dona Maria II je gegeben hat. Christina Vidal hat sich deshalb von ihm überreden lassen auf die Bühne hinaufzukommen, weil er an dem Tag geboren ist, an dem sie zum ersten Mal als Souffleuse gearbeitet hat – und sie ist abergläubisch. Rodrigues ist auch nicht traditionell, er ist ein Neuerer und Experimentator. 2018 hat er neben Milo Rau und Jan Klata den Europäischen Theaterpreis bekommen. Aber während er auf sanfte Art dekonstruiert, alles in Erinnerungssplitter zerlegt, nirgends einem Handlungsfaden folgt, sondern Themen und Stimmungen, erscheint inmitten dieses Prozesses etwas, was es in der Dekonstruktion niemals geben dürfte: Sinn. Bedeutung. Glaube an den ewigen Wert von Literatur.
Ein Ort, sich den Mysterien zu widmen
Tiago Rodrigues ist besessen von der Welt der Erinnerungen, von dem, was die Geister und Phantasien, die in alten Texten überleben, zu sagen haben. Das Gedächtnis ist für ihn die architektonische Basis der Liebe. "Wenn wir uns nicht erinnern, können wir nicht lieben“ sagt der Direktor im Stück, "und ich will lieben!" Er und seine wunderbare Truppe glauben unverbrüchlich an das Theater, es ist die Grundlage ihrer Existenz und die fremden Seelen können in ihren Körpern mühelos ein und aus gehen.
Mit den Ritualen der Erinnerung lehnen sie sich gegen das Verschwinden des Theaters auf. "Wir brauchen einen Ort, wo wir uns den Mysterien widmen können", sagt der Direktor. "Wir brauchen diese Stunden, in denen wir unerwartete Verbindungen herstellen zwischen dem, was schon war, auf der Suche nach dem, was noch fehlt. Bis ans Ende der Nacht reisen. Nie die Reihen des tödlichen Konformismus stärken. Und, vor allem, nicht sterben! Niemals sterben!"
Als Zuschauer*in ist man diejenige wichtige Person, in die die Erinnerung eingepflanzt wird. Man wird aufgerufen, Widerstandskämpferin gegen das Vergessen zu werden. Und erlebt, wenn man das Theater auf dieselbe Weise liebt wie Rodrigues und seine Truppe, in dieser Vorstellung ein großes Glück.
Sopro
Konzept, Regie: Tiago Rodrigues, Bühne, Licht: Thomas Walgrave, Kostüm: Aldina Jesus
Mit: Beatriz Brás, Carla Bolito, Cristina Vidal, Isabel Abreu, Marco Mendonça, Romeu Costa
Eine Produktion des Teatro Nacional Dona Maria II, Lissabon
Premiere im Juli 2017 beim Festival d’Avignon
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.festwochen.at
Kritikenrundschau
"Ein verblüffendes und bewegendes Stück über die Poesie von Pflichtbewusstsein, es flüstert sich ins Herz," schreibt Christina Böck in der Wiener Zeitung (9.6.2019). Tiago Rodrigues habe in "Sopro" eine raffinierte Erzählklammer gebaut, "die dieses Mäandern zwischen Autobiografie, Probenatmosphäre, Fetzen aus Racines "Berenize" und leisem Witz geschickt zusammenhält. Dazwischen entstehen starke Bilder, wie wenn Vidal nach dem Tod der Intendantin allein dem Dolby-Surround-Sturm-Sound trotzt. Drei Schlüsse hat das Stück, und der letzte ist der beste."
"Eine schöne, zarte Ehrung des gesamten Theaterbetriebs, auch zum Gefallen des Wiener Premierenpublikums," so Paula Pfoser auf der Webseite des ORF (8. 6.2019).
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