Haus ohne Ruhe - Theater Ingolstadt
Mord ist nicht nur Männersache
30. Mai 2024. Zum Auftakt der 39. Bayerischen Theatertage gibt es eine packende "Orestie"-Neudichtung von Zinnie Harris, in der Regie von Jochen Schölch. Mit interessanten Perspektivwechseln und einem sehr zeitgemäßen Finale.
Von Christian Muggenthaler
30. Mai 2024. Die alten Geschichten: Steckt schon alles drin, ist alles schon Thema gewesen. Diese Sagen, Epen, Legenden, frühen griechischen Dramen erzählen davon, wie der Mensch ist. In größtmöglicher Wucht. Rache, Liebe, Neid, Edelmut und die Menscheitsgeschichte als Gewaltgeschichte: immer dasselbe Schicksalsfadenstrickmuster.
Dank Aischylos beispielsweise wissen wir davon, dank seiner "Orestie"-Trilogie um Tochtermord, Gattenmord, Muttermord, Schuld und Sühne. Eine Geschichte, so hoch dramatisch, komplex und in den Handlungsmotiven der Figuren so wahr, dass sie immer gilt und deswegen flexibel ist wie altgriechisches Kauharz. Was jetzt eine gewagte und gewonnene deutschsprachige Erstaufführung einer Überschreibung der "Orestie" durch die schottische Autorin Zinnie Harris wieder bewies: im Stadttheater Ingolstadt, als Eröffnungspremiere der 39. Bayerischen Theatertage.
Ganz große Geschichte ganz groß
Harris unternimmt in ihrer "Haus ohne Ruhe"-Trilogie zwei zentrale Fokus-Wechsel gegenüber der antiken Vorlage: Sie stellt zum einen Klytämnestra und Elektra in den Mittelpunkt und macht sie zu aktiven Handlungsbewegerinnen, zu Mörderinnen an Mann und Mutter. Sie brauchen keine Männer mehr als messerführendes Organ, das können sie selbst. Die Männer stehen hier eher neben sich. Wenn schon König Agamemnon in seiner Heldenspieldominanz die eigene Tochter opfert und zehn Jahre später um Entschuldigung jammert, darf seine Frau selbst eintreten in diese Gewaltwelt und Rache üben.
Regisseur Jochen Schölch bleibt im ersten Teil des Abends in einer Art Horror-Theater-Binge-Watching noch relativ nah am Original und nimmt sich alle Zeit der Welt, die Geschehnisse zu entwickeln: Er, das Team und das Ensemble, machen eine ganz große Geschichte ganz groß.
Die Bühne (von Fabian Lüdicke) besteht eigentlich nur aus einer weißen, schiefen Ebene in riesigem Raum, auf die von Fall zu Fall von oben herab ein Palast schwebt. Außen herum ist alles dunkel; eine Dunkelheit, die im Verlauf des Abends so zunimmt wie die Begrenztheit der Figuren durch ihr Schicksal.
In diesen Räumen wuseln die archaischen Gestalten, ganz klassisch gekleidet (Kostüme: Andrea Fisser) in dieser Schölch'schen Ästhetik der Zeitlosigkeit: Er schafft einen riesigen Raum, den das Geschehen dann einnimmt, einen Klangraum der Emotionen, einen großen Laufstall für die unmenschlichen Umtriebe der Menschen darin. Unterstützt von der beiläufig kommentierenden und untermalenden Klangwelt von Malte Preuss entsteht in diesem Bühnen-Gesamtkunstwerk ein Mahlwerk aus äußerem Handeln und inneren Leidenschaften.
Rachedurst von Mutter und Tochter
Ein Chor (geleitet von Alexander Weise) setzt im ersten Teil die Akzente: ein grandioser Chor aus Invaliden, Krüppeln und Gedemütigten, alle verwundet vom Leben, dessen weiteres Verwundungsgeschehen sie nun anschauen, durchkauen, einordnen. Kaputtwerden und Kaputtmachen. So läuft das Schicksal. Aus diesem Geschehen steigt Teresa Trauth als Klytämnestra, durch und durch verwundet und verletzt, lässt das Publikum hineinschmecken in ihren Rachedurst.
Weil alles so raumgreifend riesig ist auf der Bühne, sind es auch ihre Emotionen, schrill, groß, fast platzend zwischen Liebe einst und Hass jetzt. Und wenn erst einmal das Familienschloss, die Dynastie ein Haus ohne Ruhe geworden ist, setzt sich das Geschick unentwegt fort.
Im zweiten Teil, der sich schon mehr von Aischylos wegbewegt, deutlich leiser ist als der erste, bedächtiger, streckenweise auch komisch sein darf in seiner Menschenerforschung, wird Elektra zur Rächerin ihres Vaters: Sarah Schulze-Tenberge entwickelt eine ruhige, selbstzweiflerische, aber zunehmend resolute Täterin in spe. Man schaut einem Motiv beim Wachsen zu.
Elektra in der Psychotherapie
Und Zinnie Harris setzt noch einen drauf, einen zweiten entscheidenden Fokus-Wechsel. Der dritte Teil bedient sich nicht der Erinnyen-Jagden und des Göttinnen-Urteils, sondern spielt in einer psychiatrischen Klinik von heute, in der Elektra vor ihren Panik-Attacken geheilt werden soll. Da stellt sich die Frage: Ist das, was einst Götter und Geister genannt wurde, irgendwie existent oder nur eine äußere Metapher innerer Dämonen? Und ist das, was Fluch genannt werden kann, nicht eher ein Effekt nie behandelter innerfamiliärer Gewalt-Traumata?
Die Bühne wird in diesem dritten Teil sehr viel kleiner, zentrierter, die Handlung bekommt ihren neuen Mittelpunkt in der Frage nach dem Umgang mit psychischen Ausnahmesituationen. Und auch dabei ist diese Inszenierung ganz bei sich. Ein fünfstündiger Fokus auf zutiefst menschliche Geschichten von Entgrenzung und Begrenztheit, um Schicksal und freien Willen, mit nie versagender Rhythmik und Konzentration.
Haus ohne Ruhe
Eine Trilogie nach der "Orestie" von Aischylos
von Zinnie Harris
Übersetzung Karen Witthuhn
Deutschsprachige Erstaufführung
Inszenierung: Jochen Schölch, Bühnenbild: Fabian Lüdicke, Kostümbild: Andrea Fisser, Choreografie: David Williams, Musik und Geräusche: Malte Preuss, Sprechchorleitung: Alexander Weise, Dramaturgie: Clara Bender, Knut Weber.
Mit: Olaf Danner, Jan Gebauer, Ulrich Kielhorn, Sebastian Kreutz, Philip Lemke, Ralf Lichtenberg, Péter Polgár, Amélie Hug, Enrico Spohn, Teresa Trauth, Ricarda Seifried, Sarah Schulze-Tenberge, Peter Rahmani, Richard Putzinger, Matthias Zajgier, Sebastian Kreutz, Renate Knollmann, Marc Simon Delfs, Sarah Horak, Matthias Gärtner, Manuela Brugger.
Premiere am 29. Mai 2024
Dauer: 5 Stunden, 2 Pausen
www.theater.ingolstadt.de
Kritikenrundschau
Ein "Well-made Play mit Tendenz zur Auserklärung" nennt Sabine Leucht das Stück und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (31.5.2024): "Jochen Schölchs wie immer schlanke, ganz auf die Schauspieler konzentrierte Regie hält da leider nur zaghaft dagegen." Ihm gelinge trotzdem ein "nachvollziehbares Psychogramm einer dysfunktionalen Familie, der von einem patriarchalen System grausam die Luft abgeschnürt wird". "Auch wenn der Abend über den ewig aktuellen Kreislauf von Rache und Vergeltung weitere Straffungen vertragen hätte: Langweilig wird diese Eigenproduktion des Stadttheaters Ingolstadt nie."
"Zinnie Harris stellt Fragen nach Schuld und Verantwortung für eine Spirale der Gewalt, die scheinbar keinen Anfang und schon gar kein Ende kennt. Sie stellt diese Fragen auf individueller Ebene ebenso wie auf kollektiver, gesellschaftlicher - und unterfüttert den Mythos mit moderner Figurenpsychologie", so Christoph Leibold im BR (30.5.2024). Er lobt die "kraftvoll-archaische Sprache des Stücks" und Jochen Schölchs Inszenierung als "wuchtiges Erzähltheater".
Im Zentrum stünden bei Harris die Heldinnen, konstatiert Jesko Schulze-Reimpell im Donaukurier (31.5.2024). In "Haus ohne Ruhe" gehe es "um die bösen Geister, die wir nicht loswerden können". Schölchs Inszenierung sei angesichts der Morde fast ein bisschen zu schön: "Die Bilder, die er schafft, haben eine ausbalancierte Schönheit, viel zu ebenmäßig, um diesen Abgrund der Grausamkeit plausibel zu machen." Die Schauspieler allerdings seien großartig, der Chor "ein Erlebnis".
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