Dionysos Stadt - Christopher Rüpings zehnstündiger Ritt durch die Topoi der Antike bereitet den Münchner Kammerspielen ein großes Theatererlebnis
Mehr als nur Theater
von Maximilian Sippenauer
München, 6. Oktober 2018. Der große Irrtum des Klassizismus bestand in der Annahme, dass die Antike in hehrem Weiß geleuchtet habe. So marmorn, erhaben, apollinisch. Auch wenn heute jeder weiß, dass diese Vorstellung Quatsch ist, haftet sie nach wie vor als Stigma einer ebenmäßigen Heiligkeit an allem Altgriechischen, am meisten aber an unserem Verständnis von antikem Theater. Wenn Nils Kahnwald für seinen Prolog zu Christopher Rüpings Antikenprojekt in Jeans und Pulli auf die Bühne tritt, sich eine Zigarette ansteckt und auf eine Raucherbank verweist, wo es auch jedem Zuschauer gestattet sei, während des Stückes szenisch zu rauchen, dann tut er das, um diese Ehrfurcht vor den marmorverstaubten Versen ganz schnell loszuwerden.
Unheimliches Tal/Uncanny Valley - Die Münchner Kammerspiele vertrauen zur Spielzeiteröffnung die Frage nach dem Wesen des Menschen einem Humanoiden an
Empathie und Kontrolle
von Sabine Leucht
München, 4. Oktober 2018. Der (aus Übersichtsgründen in der Box unten abgekürzte) Besetzungszettel nimmt gar kein Ende und enthält so seltsam-seltene Funktionen wie "Moldmaking and Glasfibertec" oder "FDM Print Construction Cleanup and 3D Print Assist". Nur da, wo sonst die Schauspieler stehen, findet man nichts als "Text, Körper, Stimme: Thomas Melle" und die bei Rimini Protokoll üblichen "Experten des Alltags". Es ist nämlich so, dass die Münchner Kammerspiele bei ihrer ersten Spielzeiteröffnungspremiere auf ihr komplettes Ensemble verzichten und nur einen Vortrag des Schriftstellers und Dramatikers Thomas Melle anberaumen. Ehe jetzt die Empörung überschwappt, sei gesagt: Der Coup geht auf!
Die Verlobung in St. Domingo - In München verschneidet Robert Borgmann Heinrich von Kleists Novelle mit (Post-)Kolonialismus-Exkursen und dem Selbstmord des Autors
Wie ein Zootier
von Petra Hallmayer
München, 29. September 2018. Schon die Besetzungsliste macht klar, dass wir hier keine einfache Übertragung von Kleists Novelle auf die Bühne sehen werden. Nicht Gustav und Toni sind im Programmheft verzeichnet, sondern Heinrich und Henriette. Robert Borgmanns Inszenierung von "Die Verlobung in St. Domingo" überblendet den Doppelselbstmord von Kleist und Henriette Vogel am Kleinen Wannsee 1811 mit der im selben Jahr erschienen Erzählung. Darin sucht der Schweizer Gustav in den Wirren des Sklavenaufstandes im heutigen Haiti Zuflucht im Haus eines Schwarzen. Congo Hoango, "ein fürchterlicher alter Neger", wie Kleist schreibt, benutzt seine Ziehtochter, die "Mestize" Toni, als Lockvogel, um Weiße zu massakrieren. Gustav und Toni verlieben sich ineinander, doch weil er eine List von ihr missdeutet, unfähig ist, ihr vorbehaltlos zu vertrauen, endet die Beziehung tödlich.
Marat/Sade - Tina Lanik inszeniert Peter Weiss im Residenztheater München
Freiheit, Gleichheit, Blutrausch
von Anna Landefeld
München, 27. September 2018. Zu Beginn also gleich einmal das Ende. Alle sind sie vereint: Attentäterin und Opfer samt Entourage, die am liebsten hysterisch losschreien würde. Doch noch regt sich hier keiner, alle sind sie gefangen in einem lebenden Bild nach einem Gemälde des Malers Jean-Joseph Weerts mit dem Titel "Marat ermordet! 13. Juli 1793, acht Uhr abends".
Und ganz so, als wäre der Lauf der Geschichte und ihr Ende sowieso unaufhaltbar, lungert teilnahmslos abseits des Geschehens der Regisseur dieser Groteske: Marquis de Sade ist in Tina Laniks Inszenierung von Peter Weiss' "Marat/Sade" am Münchner Residenztheater ein Prachtstück von einem leidenden Individuum des postfaktischen Zeitalters: Insasse einer psychiatrischen Anstalt, vor lauter Freiheit erst gelangweilt, dann melancholisch und darüber schließlich mächtig an Körpergewicht zugelegt. Die Politiker reden sowieso alle nur irres Zeug – keine Lust, das zu entschlüsseln. Aber wenn man also schon gezwungen sei in dieser Welt zu leben, dann könne man irgendwie doch nicht anders, als sich zu ihr zu verhalten. Einerseits. Andererseits.
What They Want to Hear - Lola Arias fächert an den Münchner Kammerspielen das Schicksal eines syrischen Flüchtlings in Deutschland auf
Das Gewicht der Worte
von Sabine Leucht
München, 22. Juni 2018. Ein Meter 85 groß, 74 Kilo schwer, geboren am 9. 3. 1988. Das sind die ersten Daten, die man einem Geflüchteten bei seiner Ankunft in Deutschland abnimmt. Und dann kommt seine Geschichte. Raaed Al Khour ist seit 2014 hier, der erste Abschiebebescheid ist abgewendet, sein Aufenthaltsstatus weiter ungewiss; seit 1620 Tagen ist er beschäftigt mit Warten. Nun steht er auf der Bühne der Münchner Kammerspiele. Ein ernster Mann, den Lola Arias seine Geschichte noch einmal erzählen lässt. Vom Leben in Daraa, wo die syrische Revolution begann. Vom Foltertod seines Cousins, den Belagerungen und der Flucht, nachdem ein Scharfschütze nachts auf ihn schoss. Alles, was wahr ist. Oder alles, was hilft?
Regie: Pınar Karabulut
Regie: Jessica Glause
Regie: Timofej Kuljabin
Regie: Amélie Niermeyer
Regie: Anta Helena Recke (nach Anna-Sophie Mahler)
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