Einsame Menschen - Berliner Ensemble
Der Schock der Leere
8. Dezember 2022. Die Dramatikerin Felicia Zeller überschreibt Gerhart Hauptmann und hört hinein ins akademische Milieu. Der ewig promovierende Gerhart gründet einen Co-Working-Space, verguckt sich in die Texterin Margarete und schreddert, wie schon bei Hauptmann, den Ehealltag mit neugeborenem Kind. Bettina Bruinier inszeniert die Neufassung.
Von Christian Rakow
8. Dezember 2022. Es ist gerade ein Jahr her, da brachte Daniela Löffner "Einsame Menschen" von Gerhart Hauptmann am Deutschen Theater Berlin kühn modernisiert zur Aufführung: Das Drama um den gründelnden Privatgelehrten Johannes Vockerat, der sich aus seinem blassen Eheleben in eine halb platonische, halb erotische Beziehung mit der jungen Intellektuellen Anna Mahr flüchtet, wurde bei Löffner zur homoerotischen Coming-out-Geschichte. Statt Anna Mahr gab's Arno Mahr, einen Professor für "feministische Zukunftsstudien" aus Stanford, der in Vockerats Villa am Müggelsee für Gender Trouble sorgte.
Leider fehlte Löffner für ihre Aktualisierung eine adäquate Textfassung, so dass das Anziehungsspiel der Männer seltsam diskursarm und intellektuell ungefüllt blieb. Und mit jeder Minute wuchs damals in mir der Wunsch, dass sich doch eine starke dramatische Handschrift einer solchen Sache bemächtigen möge, um den alten Stoff mit frischen Perspektiven und frischer Poesie auszuleuchten.
Dreieck um den kläglichen Haustyrannen
Wünsche werden ja mitunter wahr. Das Berliner Ensemble hat sich für seine Adaption der "Einsamen Menschen" von Hauptmann die Dramatikerin Felicia Zeller eingeladen. Zeller steht wie wenige für Diskursgenauigkeit, die sie in eine höchst eigenwillige, musikalische Formensprache gießt. Wenn sie, wie zuletzt in "Fiskus", das Leben von Finanzbeamtinnen vorstellt, kann man sicher sein, dass die Dinge stimmen, dass die Rhetoriken des Milieus, die bei ihr hinter hochkomischen Stummeldialogen aufscheinen, genau erlauscht sind, dass Sachverhalte wie der Cum-Ex-Skandal präzise angeschaut wurden. Wer also Figuren sucht, die nicht bloß Behauptungen vor sich hertragen, ist bei Zeller an sich an der richtigen Adresse.
Aber manchmal werden Wünsche eben auch nicht war. In ihrer Neufassung von "Einsame Menschen" verlegt sich Zeller auf die reine Akrobatik des Schwadronierens. Wir sehen den Protagonisten Gerhart als kläglichen Haustyrannen und Doktoranden von mittleren Gnaden. Seine Frau Marie hat gerade das gemeinsame Kind geboren und muss sich nun um alles kümmern, wiewohl sie doch lieber nach super kurzer Elternzeit in ihr Architektenbüro zurückkehren würde. Die Eheleute eröffnen in ihrer neu erworbenen Villa in Erkner einen "Co-Working-Space", den die eintreffende Texterin Margarete als erste "shared". Und Margarete bringt – so weit, so Hauptmann – eben den Hausherren ein wenig um den Verstand und ergo den Haushalt durcheinander. Flankiert wird das Dreieck von Gerharts Mutter Erika und seinem Studienfreund Bölsche (um gleich ein bisschen Dichterverarsche mit Hauptmanns Friedrichshagener Kollegen Wilhelm Bölsche zu betreiben).
Verachtung für das Milieu
Wenn es am DT noch so etwas wie die begründete Sehnsucht gab zu erfahren, was ein Stanford-Professor und ein nihilistisch gefärbter Berliner Vorstadt-Intellektueller miteinander zu verhandeln haben, dann geht ein solcher Anspruch auf Konversationsdramatik bei Zeller komplett an der Sache vorbei. Ihre Figuren plappern sich schonungslos Floskeln und Worthülsen um die Ohren, jedes Maul eine Schrotschleuder, Punkt, Punkt, Komma, Strich, kein Satz kommt ins Ziel. Von ihrer Identität, seien sie Kreativwirtschaftlerin oder Studiosus, sind kaum Gerippe vorhanden. Empathie seitens der Autorin gibt’s gar nicht, dafür ein gerütteltes Maß an Verachtung für dieses Milieu.
Für eine gewisse Zeit rappt das in der Berliner Uraufführung durch Bettina Bruinier noch ganz hübsch daher, unter einem Wald aus herabhängenden weißen Kakteen auf der ansonsten leeren Bühnenmitte (gestaltet von Justina Klimczyk). Aber sobald alle Figuren eingeführt sind, fällt es doch auf, dass hier eigentlich ein schlanker Sketch auf abendfüllende Länge gebracht wurde. Gewiss brilliert Corinna Kirchhoff als Mutter Erika, wenn sie in herrlichstem Singsang von ihrer Heilgymnastik ("Rugel-Methode!") schwärmt. Sina Martens als Ehefrau Marie und Oliver Kraushaar als Kumpel und Umweltaktivist Bölsche schmuggeln einen Tropfen Pragmatik ins reich gelöcherte Reden.
Doktorarbeit mit stets wachsendem Titel
Das untereinander eher lau knisternde Paar Gerhart und Margarete verstrickt sich derweil in ziellosen Kaskaden: Er, in der gelenkigen Darbietung von Gerrit Jansen, als Meister des Mansplaining, der an einer Doktorarbeit mit stetig wachsendem Titel schreibt (wer diesen Titel, der die Figur wirklich vollumfänglich erklärt, nachschauen mag, findet {slider=das Zeller-Zitat hier. |closed}"DIE ERHALTUNG VON LEBENSRÄUMEN RUDEL- UND SCHWARMFÄHIGER TIERE UND DEREN MÖGLICHKEITEN ZUR ERÖFFNUNG EINES VORSTELLUNGSRAUMES ZUR GESTALTUNG MENSCHLICHER SOZIALORGANISATION UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER MEDIALEN DARSTELLUNG VON TIERLEBEN IM FILM ÜBER DAS BIOLOGIEBUCH IM UNTERRICHT BIS HIN ZUM KINDER- UND BILDERBUCH UND DER DARAUS RESULTIERENDEN EMPOWERMENTSTRATEGIEN FÜR DIE MENSCHLICHE GESELLSCHAFT UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER VOM UFERBEREICH IN LEERSTEHENDE GEBÄUDE VERLAGERTEN BRUTSTÄTTEN VON SCHWACH BIS ÄUSSERST SCHWACH GEPUNKTETEN WASSERSCHRECKEN, DIE ZU EINER VERRINGERUNG DER POPULATION, VERÄNDERTEN ERNÄHRUNGSGEWOHNHEITEN, DIE WIEDERUM ZU EINER VERSTÄRKTEN VERDAUUNG, WELCHE SICH DURCH DIE KOTABLAGERUNGEN, DIE WIR EINER GENAUEN ANALYSE."
Margarete wiederum bietet Kürze mit Würze: Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich mit boulevardesken Titelfindungen für Internetportale, Preisklasse "Der Amazonas brennt". "Natürlich ist der Inhalt der Inhalt", sagt sie, "Also schon, aber / Wichtiger ist / Eine wirksame social media." Einmal stellt Regisseurin Bettina Bruinier diese Margarete von Nina Bruns auf die Bühnendrehscheibe und lässt sie schreiten, und es kriegt einen ganz eigenen dynamischen Rhythmus, anders in den ansonsten doch recht statuarischen Anordnungen dieses Abends.
"Der Schock der Stille" ist ein Titel, mit dem Margarete prunken will. Zeller versetzt uns mit "Einsame Menschen" in den Schock der Leere. Es rauscht. Ist auch nicht schlimm. Aber braucht es dieses luftige Virtuosenstück? Das Ignoranz mit Ignoranz verdoppelt? Das sich in Ironie verliert? Ist das nicht doch eine Verschwendung von dramatischem Genie? Kurz vor Ende kommt Oliver Kraushaar als Umweltaktivist Bölsche vehement nach vorn: "Wenn es in Zukunft / Wenn weder Wälder, noch Seen / Weder Strom noch Wasser noch Nahrung…", brüllt er. "Wir können doch nicht auf einem bereits sinkenden Schiff / Darüber debattieren, ob die Sicherheitsmaßnahmen ausreichend / Wir müssen an unserem Negativ-Thinking / Manchmal da wache ich auf und denke ganz präzise / Scheiße, die Welt!" Klaro, Scheiße! Zeller wollte uns heute das Gefiedel auf der Titanic zu Gehör bringen. Wann zeigt sie diejenigen am Ruder?
Einsame Menschen
von Felicia Zeller nach Gerhart Hauptmann
Regie: Bettina Bruinier, Bühne/Kostüm: Justina Klimczyk, Musik: David Rimsky-Korsakow, Bewegungsarbeit: Bahar Meriç, Video: Ayşe Gülsüm Özel, Licht: Mario Seeger, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Sina Martens, Nina Bruns, Corinna Kirchhoff, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar.
Uraufführung am 7. Dezember 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
Mehr zu Felicia Zeller: Die Autorin war letztes Jahr in unserer Videoreihe Neue Dramatik in 12 Positionen zu Gast.
Kritikenrundschau
Als "merkwürdig zahm" empfindet Felix Müller von der Morgenpost (8.12.2022) Zellers Drama. "Die Präzision, mit der hier reale Kommunikationspraxis auf die Bühne gebracht wird, ist zunächst faszinierend. Aber nicht für die gesamten zwei Stunden dieses Abends, da wird das elliptische Stammeln der Akteure zur Geduldsprobe." In der Inszenierung werde weder die Figur der Margarete als Karikatur eines "Digital Native" klar, noch worin "der erotische Magnetismus zwischen ihr und dem grantelnden Gerhart liegen soll", weil "er zwar behauptet, aber schauspielerisch nicht wirklich beglaubigt wird".
Felicia Zeller "ist eine Meisterin der pointierten Zuspitzung und des hinterhältig in der Luft hängenden Ungesagten", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (9.12.2022). "Wenn Zeller – prinzipiell diskursfit und humorhochbegabt – sich mit ihren kunstvollen Schrumpfsätzen hineinbohrt ins Mark ihrer Personnage, treten stets Erkenntnisse zutage, die bei aller Milieuspezifik erstaunlich anschlussfähig sind." Allerdings "bleibt das Zeller-Personal diesmal schon selbst vergleichsweise stabil an den Oberflächen hängen", und "Bettina Bruinier bremst diesen Verdichtungs- und Pointierungsesprit auf der Bühne regelrecht aus. In ermüdend statischen Anordnungen wird das Geschehen gleichermaßen in die Breite wie in die Länge gezogen und alles Angedeutete mit dickem Pinsel ausgemalt (...)".
Felicia Zeller legen einen Text vor,"der unumwunden nach Zeitgeist fragt und die Lebenswelt der nachwachsenden Hauptstadtelite widerspiegeln will – beides gelingt ihm ziemlich überzeugend", schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.12.2022). "Die Typen sind wahrheitsgetreu gezeichnet, die Sätze kommen einem erschreckend bekannt vor." Jedoch: "Eine wirkliche Spannung, gar Überraschung bietet der Abend aber nicht. Vielleicht ist das alles ein klein bisschen zu lebensnah gestaltet, als dass man sich über das Vorspiel noch wirklich wundern könnte."
Das Kopieren alter Texte stößt Gunnar Decker vom Neuen Deutschland (8.12.2022) auf. "Dabei ist Zellers Text gar nicht schlecht, und man fragt sich, warum sie nicht den Mut hatte, der Atomisierung der gegenwärtigen Gesellschaft, in der es von Pseudo-Mythen nur so wimmelt, einen eigenen Stückansatz zu widmen." Zeller führe fünf Personen vor, die zeigen, "wohin der humorlose Auftrag der Selbstverwirklichung sie bis heute geführt hat: in eine narzisstische Sackgasse, in der die Neurosen wohnen. Den aufziehenden Fatalismus wiederum kontert die kluge Regie von Bettina Bruinier mit einem präzisen Sinn für unfreiwillige Komik."
Zellers "zügig auf die Pointen zusteuernde Erzählung ist nicht an subtileren Charakterstudien, sondern an der knalligen Karikatur der Figuren interessiert", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (11.12.2022). "Und weil diese Figuren nur aus Selbstverwirklichungsphrasen zu bestehen scheinen, sind ihre Dialoge eigentlich manische Monologe, die aufeinanderprallen, ohne eine Antwort abzuwarten, lauter endlose, hochtourige Behauptungswiederholungen mit verschlucktem Satzende.“ Dem Ganzen kann der Kritiker einiges abgewinnen: "Man blickt durchaus mit Schadenfreude auf die Peinlichkeitsverrenkungen und schlecht kaschierten Lebensdesaster dieser Gestalten aus der Beletage, die ihren moralischen Dünkel problemlos mit dem kompletten Desinteresse an anderen Menschen zu verbinden wissen."
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