Furcht und Elend des Dritten Reiches - Manfred Karge lässt Brecht-Sketche spielen
Der deutsche Spießbürger-Mittagstisch
von Christian Rakow
Berlin, 1. März 2009. Beim Schlussapplaus werden Torten hereingebracht mit 71 Geburtstagskerzen für Manfred Karge, den Schauspielregisseur, Regisseursausbilder an der "Ernst Busch", Weggefährten Heiner Müllers, Grenzgänger zwischen Ost und West, von Berlin bis zum Wiener Burgtheater und zurück. Die Mehrzahl der Anwesenden im kleinen Pavillon des Berliner Ensembles stimmt das "Happy Birthday" an. Und mich, den Kritiker, befällt (nicht zum ersten Mal im Berliner Ensemble) das Gefühl, als ungeladener Gast auf einer fremden Party zu sein. Auch ganz ohne Geschenk.
7 von 27 Szenen aus Bertolt Brechts Alltagszyklus "Furcht und Elend des Dritten Reiches" (UA 1938) hat Karge sich zu einem kleinen theatralen Bukett zusammengesteckt. Und dieses wird ihm von verdienten Schauspielern (allen voran Dieter Montag, Claudia Burckhardt, Swetlana Schönfeld, Norbert Stöß) mit viel Ehrerbietung dargereicht. Die KZ-Szenen fehlen, ebenso die Dimension des kommunistischen Widerstands. Die Inszenierung hebt auf die kleinbürgerlichen Kopfeinzieher ab, die wohl an ihrem "Bruder Hitler" zu zweifeln beginnen, jedoch aus Terrorangst zu verstummen lernen.
Von Brecht bis Loriot
In puncto Gräuelszenarien und Terroranalyse darf sich dieses Aufklärungsstück durch Heiner Müllers "Die Schlacht" überboten sehen. Umso stärker fällt an diesem Abend die Tendenz zum Sketch auf, die Brecht etwa mit Loriot verbindet. In der Szene "Rechtsfindung" verfolgt man einen überforderten Amtsrichter (Dieter Montag) beim zunehmend aufreibenden Versuch, einen SA-Überfall auf einen jüdischen Juwelierladen den Opfern anzulasten. Und in "Der Spitzel", einem pedantisch-nervösen Zwiegespräch zwischen einem Studienrat (Dieter Montag) und seiner Gattin (Claudia Burckhardt), wird vermutet, der eigene Sohn, Grundschüler, könne einen wegen der geringfügigsten Nörgelei bei der HJ anschwärzen.
Drei finster dräuende Cello-Akkordklänge lassen in den Blacks zwischen den Szenen vermuten, dass Karge den Drift ins Ohnsorg-Theater, der hier vonstatten geht, nicht unbedingt beabsichtigt hat. Und doch: Allerorten wird betont, als trage man eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Mal zwitschert der SA-Mann (Stephan Schäfer) "Das ist Dienstgeheimnis", und es klingt wie "Der Kaffee ist fertig". Dann trällert das Dienstmädchen (Anna Graenzer). Ins hoch tönende Betroffenheitsfach steigt Swetlana Schönfeld mit ihrer jüdischen Emigrantin ein. Tränen fließen, Zeit sickert.
Wachsfiguren unterm Hitler-Bild
Manch einer gegenüber dämmert weg – das Publikum, auf den Längsseiten einer Schmalspurbühne sitzend, kann sich anschauen. Die Schauspieler, historisch kostümiert (von Wicke Naujoks), wechseln regelmäßig von rechts nach links, an einem bestuhlten Tisch entlang, hinüber zur Wand mit Hitler-Bild, Volksempfänger und Telefon (Bühne: Manfred Karge). Und wieder zurück. Zum Schlussbild hocken sie sich noch einmal zusammen, gefrieren zu Naziwachsfiguren am alten deutschen Spießbürger-Mittagstisch.
Furcht und Elend des Dritten Reiches
von Bertolt Brecht
Regie und Bühnenbild: Manfred Karge, Kostüme: Wicke Naujoks.
Mit: Tim Blochwitz, Eva Brunner, Claudia Burckhardt, Johannes Fritz, Anna Graenzer, Michael Kinkel, Dieter Montag, Peter Luppa, Stephan Schäfer, Swetlana Schönfeld, Norbert Stöß.
www.berliner-ensemble.de
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