Eines langen Tages Reise in die Nacht - Ulrich Waller probiert mit Eugene O'Neill das binäre Spiel
Seehund spielen
von Matthias Weigel
Berlin, 3. Februar 2011. Alles deutet darauf hin, dass es ein glanzvoller Schauspielertheaterabend werden könnte: Ben Becker und David Bennent, Gerd Böckmann und Angela Schmid spielen am Berliner Renaissance Theater die Hauptrollen im Stück "Eines langen Tages Reise in die Nacht" von Eugene O'Neill. In der Familien-Krisen-Geschichte, die sich innerhalb eines Tages abspielt, finden sich die Charaktere der labilen, morphinsüchtigen Mutter, die sich darüber selbst belügt, ein materialistischer "Schmierenkomödianten"-Vater, ein moralistisches, kränkelndes Muttersöhnchen sowie sein schwarzschafiger großer Bruder, Trinker und Bordellbesucher ( – dazu als Hausmädchen Kira Primke).
Regisseur Ulrich Waller hält sich mit künstlichen Regietheater-Eingriffen zurück und überlässt die Wohnzimmer-Bühne mit Sofa, Esstisch, Sessel und Stehlampen im zeitlosen Vergangenheits-Stil ganz seinen Schauspielern.
Zigarre, Wampe, Whisky
Die 74-jährige Angela Schmid, die in den 60ern unter Gustaf Gründgens, später bei Claus Peymann und in den 90ern bei Andrea Berth spielte, segelt als Mutter schon zu Beginn mit Gespenster-Touch auf die Bretter. Zwar wechselt sie schnell in eine geschäftige Ernsthaftigkeit, doch deutet sich ihr Drogen-Rückfall durch fortwährendes, kurzes Abdriften in autistische, obertönige Selbstgesprächs-Sphären schon an. Aber am Morgen ist noch alles gut und sie haben sich lieb, die Fixer-Mutter und der Trinker-Vater; dargestellt von Gerd Böckmann. Böckmann spielte 1975 am Hamburger Schauspielhaus unter Rudolf Noelte den kränkelnden Sohn (und Will Quadflieg den Vater), genauso wie er es 1973 in einer Verfilmung des Stückes von Peter Beauvais tat; nun ist er also der Zigarre rauchende Patriarch.
Den einen Sohn hält er sowieso für einen Nichtsnutz – es ist der 90er-Star Ben Becker, der die Rolle des großen Bruders und schlechten Vorbilds James übernimmt. Mit seiner hemdsärmeligen Wampe sitzt er erstmal am Tisch und wartet ab. Denn es trommelt schon Schlöndorff-Schauspieler David Bennent als kleiner Bruder Edmund herein, dessen "wahrscheinlich-eine-Erkältung" sich als ausgewachsene Schwindsucht entpuppen wird. Da er aber Muttis Kuschel-Liebling ist, soll diese davon nichts erfahren, zumal sie ja gerade auf Entzug ist.
Nun, es hilft alles nichts, noch innerhalb des selben Tages wird sich die Familien-Enthüllungs-Katastrophe vollenden: Mutter wird auf der Stoff-Wolke endgültig davonschweben, Vater und James im Bourbon-Whisky vereint und Edmund weggehustet sein.
Binäres Spiel
Was sich unaufhaltsam entwickeln sollte, steht im Renaissance Theater merkwürdig still, denn Seltsames tritt ein: Die Schauspiel-Größen spielen nicht das gleiche Stück. Jeder verfällt vielmehr in sein eigenes binäres Spiel aus Nullen und Einsen: entweder großer Monolog und alles geben, was man für theatralisch genug hält; oder aufhören und warten, bis man wieder darf.
Besonders Böckmann und Becker markieren von einem Moment auf den anderen mal Wut, mal Trauer, mal Null, mal Reue. Dabei spielen sie ihre Emotionen so, als würden sie sich vorstellen, im Theater Emotionen darzustellen; soll heißen, Gestik und Mimik erscheinen nicht als psychologisch motivierte Anzeichen, sondern vielmehr als behauptete, artifiziell hergestellte Zeichen.
So ist auch im größeren Zusammenhang nicht auszumachen, wer denn hier überhaupt warum welches Problem hat. Die Eins wird behauptet, ohne jemals Einhalb gewesen zu sein. Dazu findet keinerlei Zusammenspiel statt, kein Miteinander, keine Addition, Multiplikation, oder Quadrierung: Situationen verpuffen zwischen Einzelgängern.
Ach ja! Ach nein!
Als Edmund am Abend das Licht im Gang brennen lässt, bittet der Vater, er möge es doch ausschalten – wohl aus Geiz. Als sich der Sohn weigert, rennt der Vater – schnipps – wutentbrannt mit ausgeholter Hand auf den Sohn zu. Der hüstelt kurz (Krankheit!), woraufhin Böckmann seine Hand sinken lässt – ach ja, er hat es ja schon schwer genug: Reue. Hier trägt niemand etwas nach, niemand fühlt sich beleidigt, verängstigt, in die Ecke gedrängt, hintergangen, ausgenutzt, betrogen, geliebt, verführt, verarscht; schon gar nicht, wenn man gerade keinen Text hat.
Im Suff fordert Ben Beckers Figur übrigens einmal, doch nur noch Seehunde als Schauspieler zu verwenden. Das sei schließlich ehrlicher, da sie ganz offensichtlich nur etwas Andressiertes vorführten. Wenn keine Seehunde zur Verfügung stehen, kann man es natürlich auch so machen: Seehund spielen. Ausschalten, Herunterfahren.
Eines langen Tages Reise in die Nacht
von Eugene O'Neill, deutsch von Michael Walter
Regie: Ulrich Waller, Bühnenbild: Raimund Bauer, Kastüme: Ilse Welter. Mit: Gerd Böckmann, Angela Schmid, Ben Becker, David Bennent, Kira Primke.
www.renaissance-theater.de
Zuletzt sahen wir am Renaissance Theater Blütenträume von Lutz Hübner, inszeniert von Torsten Fischer.
"Muss man das mit der Couch so wörtlich nehmen?" fragt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (5.2.2011). Regisseur Ulrich Waller versuche scheinbar einen neuen Ansatz, um diesem 1940 entstandenen Portrait der amerikanischen Seelenversehrten analytisch beizukommen. "Er inszeniert das Gegenteil der heute so beliebten Familienaufstellung: das Sippen-Sitzen." Motto: "Mach's dir gemütlich mit O'Neill. Es vergehen drei Akte, in denen die Schauspieler tatsächlich kaum in die Gänge kommen. Besonders gern legt einer die Füße hoch und deklamiert in die Luft." Dabei gebe es eine hochkarätige Besetzung. "Aber die Regie lässt sie alle allein, und entsprechend freimütig spielen sie aneinander vorbei. Der gepanschte Whisky fließt in Strömen, aber die Verdrängungen, Verletzungen, Selbsttäuschungen, die in dieser Familie wüten – man spürt sie nicht. Ein psychologisch-realistisches Theater, gegenwärtig verpönt genug, führt sich selbst ad absurdum."
"Nein, das große autobiografische Künstlerdrama, diese seelenwunde Familienselbstdemontage wird hier und heute nicht gegeben", schreibt Christian Rakow in der Berliner Zeitung (5.2.2011). Vielmehr habe man es mit einem Kammerkonzert zu tun, "und die Spieler sind geigenhafte Töner, die kompromisslos die obersten Lagen ihrer kostbaren Instrumente beackern. (...) Es hätte wohl ein ergötzliches Klangerlebnis werden können. Aber leider hat Dirigent Ulrich Waller dem Quartett unterschiedliche Notenhefte vorgelegt. Weshalb es nun munter durcheinander geht: Schmid gibt ein Allegretto-Scherzo, während Becker eher den abrupten Tonleiterspagat sucht. Das expressionistische Fach probiert Bennent und wirft seinen Nietzscheleser Edmund feurig in die Runde. Und Gerd Böckmanns cowboystiefelfester Tyrone? Dem dürfte der Sinn eigentlich nach Country stehen."
Bei Wallers harmlos dahinschnurrendem Abend ersetzen bebende Stimmen jede Seelen-Regung und Lautstärke jede Gefühlsaufwallung, schreibt Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (5.2.2011). So gehen aus Kritikersicht, "gute zweieinhalb Stunden lang lauwarme Behauptungen über die Bühne." Die Schauspieler setzten alle "ihre Charaktere auf eine Spur und lassen sie mal mehr, oft weniger energievoll schnurren. Kollisionen werden behauptet, finden aber nicht statt. Wo das Stück äußerst detailliert die Lebenslügen der Familie Tyrone aufdröselt, wird hier nur so getan, als ob. Das tut niemandem weh – und O'Neill unrecht. "
Weitaus positiver fielen die Kritiken nach die Premiere dieser Inszenierung im Oktober 2010 am Hamburger St. Pauli Theater aus:
"Ist das 'altmodisches Theater', wie einige Zuschauer nach der Premiere von Eugene O'Neills Drama 'Eines langen Tages Reise in die Nacht' am St. Pauli Theater monierten?", fragt Monika Nelissen nach der Hamburger Premiere am St. Pauli Theater in der Welt (14.10.2010) und gibt die Antwort: "Nein. Altmodisch bedeutet rückständig, unzeitgemäß. Diese Inszenierung von Ulrich Waller aber ist nicht überholt, sondern im besten Sinne konventionell. Ohne störend laute Musik und Videoprojektionen, freilich auch ohne dominant zwingenden Regiezugriff, erzählen vier bisweilen großartige Schauspieler vollkommen schlüssig eine Geschichte, die uns auch heute noch aufwühlt." Ganz allmählich trete "aus dem als Lügen- und Versteckspiel getarnten Plauderton von Schmierenkomödianten die brutale Wahrheit zu Tage. Während das Nebelhorn wiederholt tutet, bleibt alles in furchtbarer, lastender, auswegloser Schwebe zurück." Entsprechend registriert die Kritikerin die Reaktion des Publikums: "Beklommener, dann begeisterter Beifall."
"Großartige schauspielerische Leistungen" hat auch Armgard Seegers für das Hamburger Abendblatt (14.10.2011) beobachtet. "Doch die Inszenierung wirkte seltsam altmodisch, fern wie aus einer längst vergangenen Zeit des Virtuosentums, des großen Auftritts auf der Bühne. Tolle Schauspieler, die mal schutzlos, mal explosiv Sucht, Hass, Trauer, Verrat oder Missgunst spielen, sieht man auch hier. Da wird auf hohem Niveau und exzessiv gelitten, gezofft und gesoffen, dass es eine Freude ist." In all dem aber bleibe der Kampf der Akteure "wie hermetisch abgeschlossen, hinter einer vierten Wand". So zeigt sich die Rezensentin zwischen Würdigung und Kritik hin und her gerissen: Das Drama wurde "wunderbar expressiv und differenziert gespielt von Angela Schmid, Gerd Böckmann, Ben Becker und David Bennent, und auch in einer Nebenrolle von Anne Weber. Doch es berührt einen nicht wirklich Man betrachtet die Schauspieler eher wie bunte exotische Fische in einem Aquarium. Bewundern allerdings kann man sie alle, wie sie die hässliche Fratze des schönen Scheins hervorzaubern können."
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