Die Mitbürger - Hans Otto Theater Potsdam
Hilfe, die Gedanken sind frei!
28. Januar 2023. Der Verein "Die Mitbürger" lädt zum Vereinsabend. Fröhlich plätschern die Ansichten, dazu nonchalantes Pianogeklimper. Doch schon bald klirren in Esther Hattenbachs Uraufführung des neuen Stücks von Annalena und Konstantin Küspert die Fahnen.
Von Michael Wolf
28. Januar 2023. So dürfte der Einlass gerne häufiger ablaufen. Kein streberhaftes Herumblättern im Programmheft, kein mahnender Hinweis, die Smartphones auszustellen, keine Schauspieler, die das Publikum von der Bühne aus überambitioniert anstarren. In der Reithalle des Hans Otto Theaters begrüßen sie die Zuschauer stattdessen einzeln, weisen den Weg zu einer Bar, wo schon ein Gratis-Getränk wartet, mischen sich unters Volk, schütteln Hände und danken allseits fürs Kommen.
Ist das am Ende hier gar kein Theater, fragt man sich, und ist damit schon mitten im neuen Stück von Annalena Küspert und Konstantin Küspert. Der Verein "Die Mitbürger" lädt zu einem Abend ein, in dessen Verlauf die fünf Mitglieder ihre Ideen für eine bessere Gesellschaft vorstellen. Geschickt bindet Regisseurin Esther Hattenbach in ihrer Uraufführung das Publikum ein, lässt es die Rolle der Gäste dieses Vereinstreffens einnehmen.
"Ich mache mir Sorgen um die Kinder"
Als solche sitzen sie an kleinen Tischen sogar teils mit auf der Bühne. Im Verlauf der Inszenierung suchen die Spieler immer mal wieder direkten Kontakt, laden zu einem Quiz oder einer spontanen Meditationsübung ein. Man ist durchaus gern bereit, sich auf das Setting einzulassen, manch Gast wird sogar unerwartet großes Engagement zeigen und ganz ungefragt und ungehalten sein Missfallen an den Redebeiträgen der Mitbürger kundtun.
Die da wären: Ronja (Charlott Lehmann), eine junge Tischlerin, die ihre Alternativität mit Dreadlocks zur Schau stellt, nachhaltige Treibholz-Weihnachtsbäume verkauft und dem Staat misstraut. Ihre Mutter Gloria (Katja Zinsmeister), eine Teilzeitarchitektin, deren Steckenpferde die Ernährung und ein aggressiver Antifeminismus sind (beides aus gleichen Motiven: "Ich mache mir Sorgen um die Kinder!").
Außerdem: Wolfgang (Philipp Mauritz), ein aus dem Schwabenland nach Brandenburg gezogener Journalist, den sein unbedingter Kampf um die Wahrheit in unguten Kontakt zu rechten Verschwörungstheorien brachte. Lucie (Franziska Melzer), eine auch als Coach arbeitende Künstlerin, die ihre überspannte Esoterik im Kampf für Freiheit und gegen Corona-Lügen einsetzt. Und ihr Mann Helmut (Joachim Berger), ein jovialer Professor, dessen geschichtsphilosophisches Referat in der Forderung nach Leitkultur und einem neuen Patriotismus gipfelt.
Nonchalantes Plaudern, abgründiges Klimpern
Die Küsperts ebenso wie Regisseurin Hattenbach lassen ihren Figuren jedoch Zeit für ihre politischen Bekenntnisse. Zunächst erahnt man nur Tendenzen in ihren Wortbeiträgen, erst später geben sie sich ganz offen zu erkennen. Die Künstlerin lädt das Publikum zu einer Vernissage ins Foyer, wo sie eine Schlange mit einer gefalteten FFP-2-Maske als Kopf ausstellt. Der Journalist plaudert in einem Videointerview mit einem rechten Aktivisten, eine Figur, die erkennbar dem österreichischen Identitären Martin Sellner nachempfunden ist. Und Übermutter Gloria zerschmettert aus Zorn über das moderne Frauenbild mehrere Kohlköpfe.
Dazu gibt es Musik. Johannes Bartmes begleitet die Mit- und Wutbürger am Flügel bei ihren Monologen, improvisiert nonchalant zu ihren Entgleisungen und leitet auch ein kleines Chorstück an. Sehr schön und friedlich singen sie da alle zusammen "Die Gedanken sind frei", doch lange währt die Harmonie nicht. Persönliche Animositäten und politische Differenzen stören die Eintracht und ruinieren den so gemütlich begonnen Vereinsabend. So steht es zumindest in der Potsdamer Stückfassung, die dem Kritiker vorliegt.
Gekonnt etabliertes Setting
In der Uraufführung hat Esther Hattenbach noch eine – leider unglückliche – Wendung hinzugefügt. Nur soviel sei verraten: Die Regisseurin steigert das Satirische ins Groteskte, um schließlich die Inszenierung im Ganzen dem Horror-Genre zu überantworten. Schade! Denn dadurch kollabiert das zuvor so gekonnt etablierte Setting, die Handlung fällt aus ihrem realistischen Rahmen und die Bürger auf den Sitzen sind plötzlich wieder ganz normale Zuschauer, die tun, was Zuschauer eben so tun: nach vorne gucken. Ob und was diese Figuren da mit der Gesellschaft, mit den Städten, den Kollegen- und Freundeskreisen, in denen sie selbst leben, zu tun haben könnten, oder gar mit eigenen Denkmustern, diese Fragen stellen sich dann leider nicht mehr.
Der Text hat ungeachtet dessen Hit-Potenzial, versucht er sich doch ebenso humorvoll wie differenziert an einer Erklärung, wie und warum sehr unterschiedliche Menschen rechten Ideen verfallen. An die jeweiligen Regionen leicht angepasst, dürfte er sich in die Spielpläne zahlreicher Theater bestens einfügen. Für Potsdam sei empfohlen: Hingehen! Aber vielleicht auch fünf Minuten früher wieder rausgehen.
Die Mitbürger
von Annalena und Konstantin Küspert
Uraufführung
Regie: Esther Hattenbach, Bühne und Kostüme: Regina Lorenz-Schweer, Musik: Johannes Bartmes, Dramaturgie: Bettina Jantzen
Mit: Philipp Mauritz, Joachim Berger, Franziska Melzer, Katja Zinsmeister, Charlott Lehmann, Johannes Bartmes
Premiere am 28. Januar 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.hansottotheater.de
"Getanzt wird am Ende der Premiere, wenn auch zaghaft. Was befreiend, aber auch seltsam ratlos wirkte für einen Abend, der inhaltlich so schwere Klopper im Gepäck hat", so Lena Schneider in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (30.1.2023). Es gehe um die Verführungskraft von Verschwörungstheorien, Rassismus und genereller Wir-gegen-die-Denke. Die Form der Werbung für einen Verein, die sich das Autorenduo Annalena Küspert und Konstantin Küspert dafür ausgedacht hat, ist ziemlich schlau." Diese Metaebene bleibe konsequent durchgezogen bis ins Programmheft hinein, wo statt der üblichen Inhaltsangaben eine Vereinssatzung zu finden ist. "Eine ganze Weile funktioniert die Verführungsidee ganz gut. (...) Und doch: Vom angekündigten 'Happening' ist das Ganze ganz schön weit weg. Dafür sind die Rollen zu klar verteilt, und auch zu klar als Theater erkennbar."
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