Bei Anruf Vorsehung!

von Tim Schomacker

Bremen, 9. Dezember 2017. So viel Telefon war nie. Jedenfalls nicht bei Sophokles. Bei ihm selbst sowieso nicht. Vermutlich auch kaum in den folgenden zweieinhalbtausend Jahren Aufführungspraxis, Aneignung und Adaption. Dass es Felix Rothenhäusler in seinem ebenso konzentrierten wie kurzweiligen Schnelldurchlauf thebanischer Staatskunst gelingt, auf den griechischen Klassiker zu reagieren als hätte er den Stoff eben aus irgendeinem Wochenendbeilagenfeuilleton aufgeschnappt, als wäre das alles nicht x-fach durchgespielt, hat mit dem Telefon zu tun. Unter anderem. Kreon: "Hat jemand seine Nummer?" Ödipus: "Ja, ich. Hab schon gewählt." Theresias: "Dr. Theresias?!"

An der Strippe

Es hat auch damit zu tun, dass Rothenhäusler sein Schauspieler/innen-Septett die ersten beiden Teile der thebanischen Trilogie in einem siebzigminütigen Rutsch durchspielen lässt. Die Figuren schreiten rasch ins Szenario, nehmen ihre Positionen ein – und verlassen sie nicht mehr. Iokaste nebst den Töchtern Ismene und Antigone nimmt Platz auf einem flauschigen Doppelbett, der blinde Seher Theresias sitzt auf einem Kissen in einer Fensternische, Kreon und Ödipus stehen als eigentümliches Zwillingspaar mittig. Vor ihnen sitzt Kreons Sohn Haimon, im Schneidersitz mit nachlässig umgeworfenem weißem Umhang.

Seine ersten Worte, die Welt drohe zu entgleisen, man möge ihr doch bitte zuhören, treten die gemeinsame Erzählung los. Sie geben in ihrem unruhigen Pulsen aber auch den Takt vor für das nun ansetzende Sprechen.

Freudianische Lust am Telefonieren

Der Beat ist schnell, drückt eine Notwendigkeit aus. Klar, da will ja auch einiges ans Licht gebracht sein: Ödipus' (Johannes Kühn lugt bereits zu Beginn mit blutigen Augen unter der prächtigen Herrschermütze hervor) familiäre Verstrickung, Kreons onkelhafte paranoide Normalisierungswut, schließlich Antigones Scheitern mit der neuen, anderen Ordnung von Familie und Staat.

Jan Eichberg hat für den Abend eine sprudelnde Sophokles-Paraphrase geschrieben. Was geschieht, besteht ausschließlich aus Worten. Als Familienkonstruktion stehen die sechs Figuren plus Seher (Siegfried W. Maschek als hübsch hinterhältiger dramaturgischer Takt- und Ideen-Flüsterer) da. Wie Menschen, die ein berühmtes Gemälde nachstellen und sich deshalb nicht bewegen dürfen. In diesem Fall wäre das "Gemälde" zugleich Sophokles Theben-Trilogie wie Freuds Ödipus-Aneignung.

OedipusAntigone2 560 Joerg Landsberg uReden schwingen sie, aber ansonsten ist man zur Bewegungslosigkeit verdammt in Felix Rothenhäuslers "Ödipus / Antigone" © Jörg Landsberg

Theresias ist der "Shrink" der Familie. Und weil alle ahnen (oder, wie Verena Reichhardts Iokaste hinreißend an Gewand und Beschwichtigungsworten nestelnd, klar macht, wissen, weil sie selber heimlich schon da waren), dass der "Shrink" Zeug zu Tage fördert, von dem man glaubt: Nee, doch lieber besser unterm Teppich lassen, wird Theresias nach Herzenslust diskreditiert. Scharlatan nennt ihn Ismene, Kreon gibt gedanklich immer neue Unterlassungsbittbriefe heraus, je näher die Erzählung dem Höhepunkt kommt. Um den des Vater- und somit Herrschermords überführten Ödipus dann aber doch mit Was-recht-ist-muss-Recht-bleiben-Geste zu verbannen.

Gegenwarts-Selbstbeschreibung

Die Familie verharrt bis zum Black am Ende in dieser familientherapeutischen Gesprächssituation. Sind erst Vergangenheitsnacherzählung: Ödipus war's! Dann Gegenwartsselbstbeschreibung: Antigone scheitert, weil sie auf dem Bruderbegräbnis beharrt. Sie erzählen sich also eine gute Stunde lang – sich selbst. Und lernen daraus gar nichts. Was eine interessante Konstellation ist für eine Tragödienbearbeitung. Der so vielleicht auch ein leiser Zweifel im Bezug auf mögliche Außen- und Nachwirkungen der Anschauung dramatischer Kunst eingeschrieben ist.

Vergnügen bereitet das Beiwohnen bei dieser psychologischen Schlachtbeschreibung allemal. Beeindruckend rasch rauschen die sieben Thebaner/innen durch Eichbergs hohen und stumpfen Ton oszillierenden Text. Anregend verrätselt genug sind die eingestreuten Anspielungen auf deutsch-griechisch-europäische Verhältnismäßigkeiten von Klassikerbegeisterung über Kriegsbesatzung bis Schuldenkrise.

Unausweichliche Tragödie

Plausibel schrullig genug das dauernde Zu- und Wegschalten Theresias' per Telefon. Elegant genug das An- und Ausspielen von allem, was nicht Text ist – von ödipaler Wüstenei über kadaververstreuende Krähen bis zu Antigones Strafgemäuer. Schlau genug Matthias Kriegs – steht mit elektronisch erweiterter Gitarre am Bühnenrand – die Musikalität des Ganzen unterstreichende, an den notorischen E-Bass-Brocken aus "Seinfeld" geschulte Knappkurz-Einwürfe. Präzise, weil offen genug Katharina Schütz‘ zum Meer-Prospekt atmender Villenausschnitt in Art Deco-Echo.

Vergnügen bereitet dieser Abend aber vor allem, weil sich hier die Akteure dermaßen vertraut in einen Text hinein ver- und diesen auf die Spur setzen, dass er fröhlich schnurrt wie ein Uhrwerk. Aber eines voller Herz und Verzweiflung. Dass Gesten rar sind, kaum einmal wer aufsteht, dass die Geächteten und Toten beständig mitquatschen (was zu hübschen Debatten um Redeverbote für Astralkörper führt) macht die tragödische Verstrickung umso unausweichlich deutlicher. Nur eben sehr komödiantisch.

Ödipus / Antigone
von Jan Eichberg nach Sophokles
Regie: Felix Rothenhäusler, Bühne: Katharina Pia Schütz, Kostüme: Elke von Sivers, Musik: Matthias Krieg, Dramaturgie: Akın Emanuel Şipal.
Mit: Annemaaike Bakker, Bastian Hagen, Johannes Kühn, Siegfried W. Maschek, Mirjam Rast, Verena Reichhardt, Robin Sondermann.
Dauer: 1 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

Hendrik Werner schreibt auf der Website des Weser Kurier aus Bremen (10.12.2017): "Aparte Anachronismen" gäben den "durchgängig flotten Takt" vor: Kostüme im "historischen Kompromiss" zwischen Antike und heutiger Moderne, eine "gewitzte Textfassung" als "Eintopf" aus "Alltagsjargon", "Lyrik des 20. Jahrhunderts", "Rauschgepflogenheiten abhängiger oder/und abgehängter Familien", "Seelenschürfmethoden leidgeprüfter Freud-Adepten", "Märtyrer-Rezeption von Polyneikes bis Anis Amri". Die Schauspieler stellten "Erhängen, Selbstverstümmelung und Zwangsexil" rein rhetorisch vor, im "vorzüglich" "monotonen Singsang einer schrecklich telegenen Familie mit tollen tumben Blicken". Die "genüssliche Dekonstruktion von Sprechhandlungen" treibe "höheren Blödsinn hervor", stifte aber auch Erkenntnisse. Die Gitarren-Interventionen von Matthias Krieg, die kommentierten, hinterfragten, ins Absurde steigerten, seien "grandios".

Christine Gorny schreibt auf der Website von Radio Bremen (10.12.2017): Man erlebe "so etwas wie eine umfangreiche Familienaufstellung". Nur Heilung dürften die Figuren nicht erwarten, die hohl und oberflächlich wirkten. Rothenhäusler habe gesagt, er wollte nicht den heiligen Ernst der griechischen Tragödie in die heutige Zeit übertragen, sondern die Konzepte kritisieren, mit denen der moderne Mensch seine Krisen bewältige. Das gelinge "ausgesprochen witzig und kurzweilig". Das Königshaus Theben amüsiere sich hier "gewissermaßen zu Tode".

 

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