Gas - In Göttingen sucht Maik Priebe nach einem aktuellen Gebrauchswert in Georg Kaisers Gas-Trilogie
Werktätige Zombies
von Elisabeth Michelbach
Göttingen, 13. Juni 2015. Mit Pauken hebt sich der Vorhang zum "heißen Herz der Erde", wo am "offenen Donnerstag" einmal pro Monat alle Armen, Ausgestoßenen und Aussätzigen auf die Hilfe des freigebigen Milliardärs hoffen können. Mit Klavier- und Geigenklängen, unzähligen Perkussionsgeräuschen und gar dem Katzenjammer eines Theremins (das ist, wie mir ein kundiger Sitznachbar zuflüstert, ein Instrument, das ohne Berührung eines Klangkörpers gespielt würde und welches durch die "StarTrek"-Serie einige Berühmtheit erlangt habe) geht es weiter – und um die Musik für einmal gleich zu Beginn zu ihrem Recht kommen zu lassen: Was der Theatermusiker und Multiinstrumentalist Martin Engelbach aus seinem Ein-Mann-Orchestergraben in Maik Priebes Inszenierung von Georg Kaisers Gas-Triptychon in Göttingen hören lässt, ist unglaublich!
Da gurrt und schnarrt und wimmert es, erklingen filmsoundtracktaugliche Moll-Akkorde und expressive Drumsolos. Engelbach loopt und zupft und streicht und trommelt das mitunter sperrige Dramen-Dreigestirn des expressionistischen Dichters zurecht, kreiert Stimmungen und Atmosphäre, wo der Text platt-programmatisch ist.
Doppelgänger und Giftgas
Zwischen 1917 und 1920 entstanden, hatte Kaiser seine drei Stücke "Die Koralle", "Gas I" und "Gas II" zwar nicht als Trilogie konzipiert, sie aber inhaltlich aufeinander bezogen: Im Zentrum des ersten Stücks steht ein aus ärmsten Verhältnissen emporgekommener Milliardär. Um die Schrecken der eigenen Vergangenheit vergessen zu können, beschäftigt er einen Doppelgänger, der zum Zweck der Gewissensberuhigung den eingangs erwähnten "offenen Donnerstag" abhält und der nur durch eine Koralle an der Uhrenkette von ihm zu unterscheiden ist. Der Sohn des Milliardärs ist entsetzt vom Leid der Arbeiter, verdingt sich als Heizer und will Verbesserungen herbeiführen. In "Gas I" hat er die Fabrik übernommen und führt sie unter Beteiligung seiner Arbeiter. Eine verheerende Explosion zerstört das Werk, der Sohn will Schluss machen mit der entmenschlichten Arbeit und seine Belegschaft als autarke Siedler aufs Land schicken. Doch für die Arbeiter ist der Ausbruch aus der kapitalistischen Logik undenkbar. Die Fabrik wird verstaatlicht, damit die Produktion weitergehen kann. Im letzten Stück schließlich ist aus der Produktion eines Tötungsmaschinerie geworden, in der die Arbeiter wie Zombies umherwandeln und Giftgas für den Kriegseinsatz produzieren.
Vom 1. Weltkrieg nach Venedig
Regisseur Priebe grenzt die drei Stücke durch das Fallen des eisernen Vorhangs deutlich voneinander ab und verändert auch jeweils Besetzung und Ästhetik: Zeigt er "Die Koralle" in einem wie von Tim Burton inspirierten, frühen 20. Jahrhundert, scheint "Gas I" vom sozialistischen Realismus geprägt. "Gas II" schließlich ist eine Videoinstallation, wie sie derzeit auch auf der Kunst-Biennale in Venedig laufen könnte.
Priebes Partnerin beim Ritt durch die Epochen ist Bühnen- und Kostümbildnerin Susanne Maier-Staufen, die die jeweiligen Settings präzise herstellt. Priebe und Maier-Staufen etablieren die Drehbühne zu Beginn sehr klassisch als Oval aus weißer Gaze, auf die sich die Schatten der Auf- und Abtretenden abzeichnen. Im zweiten Stück ist es vor allem das Tableau dreier Arbeiterinnen auf den Trümmern der explodierten Fabrik, das dem schwächsten der drei Stücke ein dramatisches Zentrum gibt. Priebe nutzt es, um den Konflikt zwischen dem Ingenieur, der auf der Bühne für den Wiederaufbau der Fabrik eintritt, und dem ehemaligen Besitzer, der von der Loge aus seine Belegschaft von der Selbstversorger-Kommune begeistern möchte, als Kreuzverhör des Publikums zu inszenieren.
Und dann kommt "Gas II", das Priebe als 15-minütige Installation ohne szenische Elemente, nur mit dem geloopten, wahnwitzigen Sermon eines Sprechers und Engelbachs Sounds inszeniert. Zu projizierten Menschenmassen und Militärparaden hebt sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf entindividualisierte Arbeits-Dummies, die in einer Werkshalle, in der die Videobildschirme wie die Hydraulikarme einer monströsen Maschine schwingen, starr vor sich hinblicken. Diese Zombies tragen lachende Münder auf ihren Masken, doch je deutlicher die Videos den militärischen Einsatz von Giftgas und die entstellten Gesichter der Opfer zeigen, desto deutlicher erweist sich das Lächeln als hässliche Fratze.
Als "erstaunlich aktuell" und "hellsichtige Prognose" wird Kaisers Gas-Trilogie im Programmheft beschrieben. Angesichts der ihr Anliegen doch arg demonstrativ vor sich her tragenden Texte erstaunt das Urteil. Dennoch muss man ihm nach diesem Abend auch zustimmen: Denn Priebe und sein Team haben nicht versucht, zu aktualisieren und passend zu machen, sondern Kaisers historischen Texten eine ebenbürtige, eigenständige Formsprache zur Seite gestellt. Und das ist "erstaunlich aktuell" und erschließt erst die Stellen, an denen Kaiser zum Prophet getaugt haben mag.
Gas
Die Koralle – Gas I – Gas II
von Georg Kaiser
Regie: Maik Priebe, Bühne und Kostüme: Susanne Maier-Staufen, Musik: Martin Engelbach, Dramaturgie: Matthias Heid.
Mit: Emre Aksızoğlu, Gabriel von Berlepsch, Nina Demmer, Gaby Dey, Angelika Fornell, Lutz Gebhardt, Marlene-Sophie Haagen, Benedikt Kauff, Benjamin Kempf, Nikolaus Kühn, Felicitas Madl, Frederik Schmid, Johanna Steinborn, Ronny Thalmeyer, Paul Wenning
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.dt-goettingen.de
Gesa Esterer findet in der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (15.6.2015) die "Gas"-Aufführung am Deutschen Theater Göttingen schlicht großartig: "Die Inszenierung dieser kantigen Trilogie hat Leichtigkeit und Eleganz, ein Horrorszenario mit Parallelen zur Jetztzeit." Bühnenbild und Kostüme von Susanne Maier-Staufen, die "in den matten Farben der Verwesung" schimmerten, seien "grandios, ebenso die von Martin Engelbach komponierte Musik".
"Mit der Inszenierung von Maik Priebe gelingt dem DT ein hervorragend gespieltes Stück, das weder den Glauben an das Gute im Menschen, noch das Gefühl der Düsternis und vollkommenen Verelendung der Welt vermissen lässt“, schreibt Daniela Lottmann im Göttinger Tageblatt (15.6.2015). Das Stück "zeigt keine klaren Positionen, nicht das absolut Böse, keinen strahlenden Helden, sondern eine komplexe Welt, die sich schneller verändert, als zunächst wahrnehmbar ist."
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