Tartuffe - Deutschen Theater Göttingen
Genderlein im Neonschein
17. März 2024. Moritz Franz Beichl zeigt Molières Komödie vom scheinheiligen Betrüger Tartuffe am Deutschen Theater Göttingen als bunten Reigen um Gender und Geld.
Von Simon Gottwald
17. März 2024. Molières "Tartuffe" im "Super-Wahljahr" 2024. Das scheint zu passen, und man erwartet in der Geschichte des frömmelnden Betrügers sogleich das aktuell-politische Statement: zur Lage der Desinformation, zur Politik des Fake, zu Populismus und Trumpismus.
Die Inszenierung von Moritz Franz Beichl am Deutschen Theater Göttingen verzichtet dankenswerterweise auf diese naheliegende Interpretation des Textes und liefert stattdessen eine bunte und sehr stimmige Revue mit Neonlichtern, Crossdressing, Gesang und einem homoerotischen Subtext, der so 'sub' gar nicht ist.
Kabale in neuen Kleidern
Der Schwindler Tartuffe hat sich also ins Haus des betuchten Bürgers Orgon eingeschlichen, umgarnt ihn mit Frömmelei, soll mit der Tochter verheiratet werden, ist allerdings tatsächlich hinter Orgons Frau Elmire her und zudem hinter Orgons Besitz. Soweit Molière.
Vor dem eindrucksvollen Bühnenbild von Valentina Pino Reyes, dessen Herzstück eine zweigeschossige Hausfassade voller bunter Neonlichter ist, werden der bekannten Geschichte neue Akzente verliehen: durch einen effeminierten Cléante (stark sowohl im Leisen wie im Wutausbruch: Roman Majewski als Bruder von Elmire, der gegen Tartuffe streitet) und einen nicht wirklich maskulinen Valère (herrlich komisch im Flirt mit dem Publikum: Anna Paula Muth als lange ausgebooteter Bewerber um die Hand von Orgons Tochter).
Orgon ist dem Betrüger Tartuffe (schon beinahe beunruhigend charismatisch: Gabriel von Berlepsch) nicht nur aufgrund von dessen vermeintlicher Frömmigkeit hörig, sondern auch, weil da dieses kleine Wörtchen ist, das auszusprechen Orgon sich nicht getraut: die Liebe.
In Gesangseinlagen gestehen Orgon und Tartuffe einander, dass da etwas mehr als eine reine Männerfreundschaft ist, aber am Kern des Problems, das da heißt Tartuffe, ändert das nichts. Der nämlich ist auch in dieser Inszenierung nur an Orgons Frau Elmire interessiert. Als dem Publikum "die Tisch-Szene" angekündigt wird, ahnt dieses wahrscheinlich schon, dass gleich etwas mehr zu sehen sein wird, als in Molières Text vorgesehen.
Zwischen den Geschlechtern
Dass man es mit einem über 350 Jahre alten Text zu tun hat, machen die vielen Modernisierungen vergessen, aber trotz gelegentlicher Einfügungen von Szenen, eines Tartuffes Keuschheit herausfordernden Tanzes von Elmire (Tara Helena Weiß in Höchstform) und des Spiels mit Geschlecht sieht man hier immer noch Molières "Tartuffe": werktreu und trotzdem sehr eigen.
Apropos Geschlecht: Dass je eine Frauen- bzw. Männerrolle mit einem Schauspieler bzw. einer Schauspielerin besetzt wurde, und dass Cléante eher zwischen den binären Geschlechtern zu verorten ist, ist ein netter Einfall, der sich überzeugend in die knallig bunte Optik der Inszenierung einfügt. Wie vieles an diesem Abend trägt auch er dazu bei, das Spannungsverhältnis von Schein und Sein, das den Zuschauern in Neonfarben von der Hausfassade entgegenstrahlt, zu betonen.
Etwas mehr Schein gefällig?
Eine Freude ist es, wie das durchweg starke Ensemble mit dem Publikum interagiert, wie einzelne Besucher von Tartuffe in einer Art improvisierter Beweihräucherung des Daseins in die Aufführung einbezogen werden, wie auch die Türen zum Zuschauerraum und dieser selbst genutzt werden, um aufzutreten oder vor Verantwortung und Gesetz zu fliehen. Die Frage, die im (Zuschauer)Raum steht, lautet ganz klar: Brauchen wir nicht alle manchmal etwas Schein, um das Sein zu ertragen?
Situationskomik lässt sich furchtbar schlecht nacherzählen, aber wenn Tartuffe einen Koffer öffnet, der wie ein Matrjoschka-Püppchen weitere ineinander geschachtelte Köfferchen enthält, aus deren kleinstem Tartuffe das Dokument holt, das ihm Orgons Besitz übereignet, und die Mitteilung dann genüsslich auskostet, ist das für den Zuschauer eine helle Freude. Ähnlich verhält es sich mit einem Wutanfall, den Elmire lautstark hinter der Kulisse hat, um ihrem Mann im Anschluss gegenüberzutreten, als wäre nichts gewesen.
Der Abend hält zahlreiche Szenen bereit, die mindestens ein Lächeln ins Gesicht zaubern, und dafür alleine lohnt es sich schon, die Inszenierung anzusehen. Für die Truppe gab es vom Publikum Standing Ovations.
Tartuffe
von Molière
Regie: Moritz Franz Beichl, Bühne: Valentina Pino Reyes, Kostüme: Astrid Klein, Musik: Fabian Kuss, Dramaturgie: Sarah Charlotte Becker.
Mit: Gabriel von Berlepsch, Gaby Dey, Andreas Jeßing, Gerald Liebenow, Roman Majewski, Daniel Mühe, Anna Paula Muth, Marina Lara Poltmann, Christoph Türkay, Tara Helena Weiß.
Premiere am 16. März 2024
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.dt-goettingen.de
Kritikenrundschau
"Eine herrlich burleske Klamotte" hat Ute Lawrenz für die Hessische Niedersächsische Allgemeine (18.3.2024) in Göttingen gesehen. "Beeindruckend ist der Umgang mit der Sprache: Den Schauspielern gelingt es, Molières Verse wie Alltagssprache rüberzubringen. Nach zweidreiviertel schnell verstreichenden Stunden (mit Pause) gaben knapp 400 Menschen im vollbesetzten Haus langanhaltenden Applaus mit Bravos und Standing Ovations."
Die "Leichtigkeit in der Darbietung" hebt auch Lea Lang vom Göttinger Tageblatt (18.3.2024) hervor. "Stand für Molière schon fest, dass die Komik das Mittel der Wahl ist, um schwere Kritik am Einfluss gewisser erzkatholischer Glaubensgemeinschaften zu verpacken, wird in Göttingen auch klamaukig gearbeitet. Die deutsche Textfassung von Wolfgang Wiens in Reimform betonen die Schauspieler von Zeit zu Zeit über, stolpern und stürzen gehört zur Inszenierung. Temporeich und mit vollem Körper- und Mimikspiel gehen die Spieler in ihren Rollen auf, reißen mit ihrem Gesang das begeisterte Publikum fast aus den Sesseln."
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