Das Wirtshaus im Spessart - Lars-Ole Walburg eröffnet die Spielzeit in Hannover mit Wilhelm Hauffs Kunstmärchen
Auf Plateaus durch den Wald
von Stephanie Drees
Hannover, 7. September 2013. Man muss dem Regisseur Lars-Ole Walburg eines lassen: Er besitzt eine sehr eigene Form von Unerschrockenheit. Findet er Gefallen an einer Idee, dann wird sie durchgezogen. Sie ebnet sich auf der Bühne quasi ihren Weg - oder stapft hindurch, wie jüngst in Hannover geschehen: Der Waldgeist-Riese "Holländer Michel" hat groß zu sein. Also trägt Holländer Michel Monsterplateaus aus Eiche massiv - optisch passend zur Maserung des Baumstamms, der mitten auf der Bühne steht. Das ist der Humor von Lars-Ole Walburg.
German Angst
Mit seiner Version von "Das Wirtshaus im Spessart", dem großen Kunstmärchen von Wilhelm Hauff, eröffnet der Regisseur die Spielzeit am Hannoverschen Schauspielhaus. Und eines ist dieser Abend mit absoluter Sicherheit: ein echter Walburg. Aber, um die Fairness nicht direkt zu Anfang mit dem Holzschuh zu treten: Die Sache mit dem Humor ist gewiss diffizil. Geschmäcklerisch ist sie, kalauernd und immer ein wenig versnobt.
Für das Miteinander im realen Leben trifft das zu, und was für das reale Leben gilt, gilt umso mehr für die Bühne. Dort wird der Stoff, aus dem die menschlichen Marotten sind, gedehnt, gezogen und behackt, bis ihre tieferen Schichten zum Vorschein kommen. Es kann noch so klamaukig werden - für sie interessiert sich Walburg, vor allem in allegorischer Form. Dass er Hauffs Märchen inszenieren wollte - keine Überraschung. Eine "Angstexpertise" kündigt er im Untertitel an. Es soll um die Deutschen, die Tradition ihrer kollektiven Furcht und deren Wirkung bis in die Jetztzeit gehen. Bei der Ankündigung ist es geblieben.
Spelunken-Atmosphäre
Hauffs Märchen, veröffentlicht 1826, ist mehr als ein großes erzählerisches Werk. Vier Geschichten beherbergt die Rahmenerzählung - eigenständige Geschichten, skurril, anmaßend und schaurig. Zwei junge Gesellen, der eine Schmied, der andere Goldarbeiter, wandern nachts zwischen den Fichten und Buchen des tiefen, deutschen Waldes. Weil der Wald schon immer eine Projektion für Erzählgut war, ein riesiges, grünes Mythendickicht, taucht dort ein Wirtshaus auf, das selbst zur Produktionsstätte von Geschichten wird. Zwei Situationskumpanen treffen sie dort: den Studenten und den Fuhrmann. Ein Männerclub, der sich die äußeren Bedrohungen durch die gefürchteten Wald-Räuberbanden mit dem Erzählen von Legenden vertreibt.
So rollt auf der Bühne Walburgs erster von drei großen Trümpfen herein: das Bühnenbild. Das Wirtshaus besteht nur aus hölzernen Balken. Ein Klettergerüst für die Schauspieler, das sie auf zwei Ebenen bespielen können, ein großer, nackter, rustikaler Spielplatz. Womit wir schon bei dem zweiten großen Trumpf wären: dem Ensemble. Die spielen sich zweieinhalb Stunden lang den Wolf. Sie turnen durch diese Schauer-Posse, über der ein glänzender Mond wunderschön und unerbittlich scheint, als gäbe es kein Morgen. So erschaffen sie schicksalsergeben die Episoden, in die Walburg so verknallt ist. Bis das Setting der Rahmenerzählung mit schmuddeliger Spelunken-Atmosphäre etabliert ist, vergeht allerdings schon fast eine Stunde.
Vom Opfer zum Täter
Von den vier Binnenerzählungen des Märchens werden zwei gespielt: "Die Höhle von Steenfoll" und die wohl bekannteste: "Das kalte Herz". Hinzugenommen hat Walburg die Geschichte von "Zwerg Nase". Es geht um Gier, um das Besitzen und Besitz-Vermehren, um den Neid und seine Selbstzerstörungskräfte - Geschichten über den armen, dusseligen Tropf, das Gesellschaftsopfer, das seine Seele ans Böse verliert. Alles wird in hübschen, postmodern überpinselten Märchenbildern illustriert.
Der Fischer, den Sandro Tajouri wie alle seiner Figuren mit Bersekerenergie spielt, wird beim Deal mit einem Meeresgeist in ein Kuhfell gewickelt. Christoph Müller als sein Lebenspartner hilft bei der Schlachtung des Tiers und übergießt sich mit einem Eimer Kunstblut. Müller, in dessen Gesten eine naturkomische Verzweiflung steckt, ist ebenso begabt wie Katja Gaudard, die als Bühnen-Gollum mit Strumpfhose über dem Gesicht die Bühne bespielt. Sie halten beflissen Distanz zu ihrer jeweiligen Figur und machen mit Nebelmaschine in der Hand Meta-Theater-Witze, bis der Spagat zwischen Budenzauber und manisch augenzwinkernden Theater einen Riss im Material ankündigt. Knick, knack.
Trümpfe ausspielen
Der größte Trumpf, den Walburg hat, ist der Musiker Alain Croubalian. Er gibt den weißgesichtigen Erzähler im Anzug. Croubalian schrieb gemeinsam mit Rainer Süßkind die Musik für die Inszenierung. Mit morbiden Banjoklängen erobert er auf leisen Sohlen die Bühne, kommentiert und flankiert das Geschehen. Und so ist es angesichts dieses Full House an Trümpfen fast absurd, wie der Karren so vor der Wand landen konnte - vor allem dramaturgisch.
Nach zweieinhalb Märchenstunden wird das Bühnenbild wieder zurückgerollt. Peter Munk, der Protagonist aus "Das kalte Herz" erzählt als zynischer Dekadenz-Jünger noch ein bisschen was über seine Kapitalismusverwahrlosung. Die Episoden sind auserzählt, die Märchen beendet. Die Rahmenerzählung: plötzlich wurst. Hauffs Märchen ist auch eine Parabel darüber, warum Menschen sich Geschichten erzählen. Es handelt von der hausgemachten, der erdrückenden, der abschnürenden Angst. Was auch immer Walburg über die "German Angst" sagen wollte - es reicht am Ende nicht aus, um eine Inszenierung zu füllen.
Das Wirtshaus im Spessart
Eine Angstexpertise von Wilhelm Hauff
Regie: Lars-Ole Walburg, Musik: Alain Croubalian (Leitung), Rainer Süßmilch, Bühne: Robert Schweer, Kostüme: Nina Gundlach, Dramaturgie: Judith Gerstenberg.
Mit: Alain Croubalian, Beatrice Frey, Katja Gaudard, Janko Kahle, Christoph Müller, Daniel Nerlich, Rainer Süßmilch, Sandro Tajouri.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause.
www.staatstheater-hannover.de
In der Eröffnungsinszenierung der neuen Saison setze Intendant Lars-Ole Walburg "ganz auf Atmosphäre", meint Alexander Kohlmann in Fazit auf Deutschlandradio Kultur (8.9.2013). Dabei hätten Walburg und sein Team eine "Angstexpertise und einen Blick in die deutsche Seele" versprochen, "diese selbstgesetzte Vorgabe" aber "nur teilweise eingelöst. Dass Angst gefährlicher sein kann als ihr Objekt wird auf unheimliche Art und Weise erkennbar, was genau das speziell Deutsche an dieser Angst ist leider nur in Ansätzen." Es blieben "noch Fragen offen".
Auch Rainer Wagner schreibt in der Hannoverschen Allgemeinen (9.9.2013), dass "die Angst zwar der Leitfaden der Geschichte" sei, doch der gehe "im Laufe des Abends verloren". Trotzdem: Auch wenn Walburgs Regie "gerne holzschnittartig bis kalauernd" sei, spielten die Darsteller ihr Rollen doch mit "sichtlichem Spaß, der immer wieder ansteckend ist". Und so breche denn Walburg auch eine Lanze für sein Metier: "Auf der Schaubühne kann die Spielfreude auch Konzeptschwächen überspielen."
"Mit viel Lust am Theatergrusel" stelle Walburg diese Inszenierung auf die Bühne, und es sei ein "Spektakel mit toller Musik und feinem Hintersinn geworden", meint Evelyn Beyer in der Neuen Presse (9.9.2013). Walburg koste "das Märchenmalerische weidlich aus" und flechte auch "viel Witz ins Original" ein. Alles in allem ein "schaurig-schöner Abend" und eine "großartige Ensembleleistung".
Auf Till Briegleb wirkt Walburgs Inszenierung "mit zunehmender Dauer wie der Kindergeburtstag bei einem Filmproduzenten, der Zugang zum Kostümfundus der DEFA-Märchen hat". Ständig dürften sich die lustigen Schauspieler verkleiden und die sonderlichsten Sachen machen. Walburg habe die Angst als "derzeit vorherrschendes Gefühl in unserer Gesellschaft" zum Thema des Abends erklärt, schreibt Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (21.9.2013), und "so nett und putzig hat man Angst schon lange nicht mehr gesehen." Denn wer in diesem dramaturgischen Rätsel irgendeine Spur von gegenwärtigen Gesellschaftsproblemen entdecke, der habe zu Recht den Schatz von Carmilhan verdient, dessen Verlockung Walburg hier in Theaterzauber auflöse. "Und auch die subtile Herrscher- und Kapitalismuskritik Hauffs, die Anfang des 19. Jahrhunderts jeder Leser genauso gut verstand, wie die DDR-Bürger die politischen Anspielungen in ihren Theatern, löst sich völlig auf in dem poetischen Illusionismus, den Walburg hier sehr unterhaltsam inszeniert."
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