Der Bratschen-Sound der Kanzlerin

von Michael Laages

Oldenburg, 17. Juli 2021. Frisch gewählt sind die Damen und Herren, die da gerade Platz nehmen im Halbrund der Arena aus blauen Sesseln – im neuen Deutschen Bundestag, dem 19. Parlament seit 1949. Eine Wahlurne war zu sehen gewesen auf der Bühne, Menschen steckten weiße Zettel hinein; dann wurde die vom TV-Bildschirm vertraute Ergebnis-Grafik simuliert, und aus den Blöcken in Schwarz, Rot und Grün, Gelb und Blau gaben die führenden politischen Köpfe von CDU/CSU, SPD und Grünen, FDP und AfD per Video-Projektion die ersten Nach-Wahl-Statements ab. Schließlich schwor die Stimme des Parlamentspräsidenten Wolfgang Schäuble das Personal ein auf die parlamentarischen Regeln – und jetzt, bei Schäubles Rede, war erstmals (nach dem Einstimmen des Orchesters auf das nun beginnende Stimmengewirr) das Prinzip zu hören, auf dessen Basis der Berliner Komponist Paul Brody die "Demokratische Sinfonie" entworfen hat, die da als letzte Premiere der Saison am Staatstheater in Oldenburg zur Uraufführung gekommen ist. Sie ist ein musikalisches Abenteuer.

Klang der Debatten

Brody, hauptsächlich Jazz-Trompeter, dessen weltmusikalisch orientierte Band "Saddawi" stets eine der wichtigsten und prägendsten Jazz-Stimmen der jüdischen Diaspora in Europa blieb, hat sich mit einem Phänomen beschäftigt, das jedem Beobachter und jeder Beobachterin des politischen Alltags vertraut ist: mit dem Klang, dem Sound von Debatten. Nicht nur, dass Angela Merkel naturgemäß nicht wie Alice Weidel oder Katrin Göring-Eckardt klingt und Alexander Gauland nicht wie Christian Lindner oder ehedem, nach der Wahl von 2017, Martin Schulz – neben der menschlichen (und intellektuellen) Differenz macht halt die Art des Sprechens, dessen Haltung und Emotion, den Unterschied aus im politischen Diskurs. Ja: der Ton macht die Musik. Hier hat Brody angesetzt – und die Worte von Politikerinnen und Politikern in Musik "übersetzt".

DemokratischeSinfonie1 1200 Stephan Walzl uDie große Bühne der Politik, vorne Rebecca Seidel © Stephan Walzl

Er folgt dabei vor allem Höhen und Tiefen, Auf und Ab, Spannung und Entspannung, Gelassenheit und Erregung in Stimme und Ton – und setzt diesen Strom der Worte dann in Noten. Außerdem ordnet er bestimmte Stimmen den entsprechenden Instrumenten des Orchesters zu – Gelassenheit und Gleichmut der Kanzlerin etwa sieht er besonders passgenau im Klang der Bratschen repräsentiert. Was durchaus als charmanter Nadelstich durchgehen kann – denn dieses Instrument gilt als eines der langweiligsten überhaupt… Aber es steht durchaus beruhigend dem Lärm gegenüber, der von anderen Teilen des Instrumentariums zu verantworten ist.

Wie klingt der Hass? 

Der 19. Bundestag, dessen Nachfolger, der 20., in wenigen Wochen gewählt wird, war und blieb deshalb besonders, weil mit der Fraktion rechtsaußen im Saal (und jetzt in der Simulation auch auf der Oldenburger Bühne) eine neue Stimme mitsprach im Chor der Tagespolitik: die der AfD-Fraktion. Das Maß an zusätzlicher Aggression, die von dort ausging, war (und blieb) enorm; und führte zu deutlichen Verlusten im zuvor stets sehr zivilisierten, tendenziell schiedlich-friedlichen Umgang miteinander.

Weil das so blieb (und sicher bleiben wird), wirkt Paul Brodys Methode der Musikalisierung so erhellend – die "Demokratische Sinfonie" versucht jetzt tatsächlich der Frage nachzugehen, wie Hass klingt, Polemik und Verachtung; aber wie demgegenüber auch das Bemühen um liberale Zivilisiertheit klingen kann, um Gemeinschaft und soziale Verantwortlichkeit, um Humanität und Zukunftsfähigkeit. Wie klingt womöglich gar die Bitte um Entschuldigung, zu der die Kanzlerin sich rund um Ostern dieses Jahres durchringen musste, mit dem Eingeständnis von Fehlern in der Pandemie-Politik? Der Hass-Ton, so viel wird sehr schnell klar, mag für Aufregung stehen in dramatischen Gegenwarten – nach Zukunft klingt er nicht.

Demokratische Sinfonie 1200 Stephan Walzl uHass klingt nicht nach Zukunft (Bühne von Annika Wieners) © Stephan Walzl

Regisseur Kevin Barz und Dramaturgin Anna-Teresa Schmidt haben aus immensen Mengen dokumentarischen Materials der Parlamentsdebatten vor allem ein sehr frühes Plenum ausgewertet, das vom Mittwoch, dem 12. September 2018, als sich die Neu-Auflage der Großen Koalition gerade formiert und etabliert hatte; und von Rechtsaußen immer hetzerischer über Probleme der Migration gesprochen wurde und sonst über gar nichts. Die Dokumentation des Hasses bleibt schwer zu ertragen, die Worte sind sogar deutlich dissonanter als Brodys Musik; und die Provokateure ziehen auch den Rest des Personals mit hinein in die Dauer-Schlammschlacht. "Hass macht hässlich" – das ist sicher das wahrhaftigste Zitat in diesem Sprach-Spektakel. Das galt aber leider nicht nur für die, die den Hass predigen.

Markant, kraftvoll, beispielhaft

Debatten aus dem vergangenen wie dem laufenden Jahr führen die "Demokratische Sinfonie" ganz nah heran an die Gegenwart der Pandemie – und wenn die Spielzeit halbwegs normal beginnen sollte, positioniert sich das Oldenburgische Staatstheater, eines der kleinsten im Theaterland, gerade 175 Jahre alt geworden und unter anderem in einem herrlichen alten Hoftheater zu Hause, sehr markant, kraftvoll und vorbildlich in der Vorwahlzeit. Schauspiel-Ensemble und Orchester unter Leitung von Vito Cristofaro beweisen auf beispielhafte Weise, was ein Theater leisten kann.

Und das stärkste Signal neben Brodys Musik bleibt immer präsent an diesem Abend – denn nicht der Schriftzug vom Reichstagsportal hängt oben in der Bühne, also nicht "Dem Deutschen Volke", sondern "Der Bevölkerung", das Motto, das der Künstler Hans Haacke der Erd-Skulptur im Innenhof des Parlaments-Gebäudes gab; Parlamentarierinnen und Parlamentarier können hier seit mittlerweile 20 Jahren Erd-Proben der eigenen Heimat deponieren. Und Haacke behielt recht - die "Bevölkerung": das sind alle, ohne jeden Unterschied. Diese einfache Wahrheit ersetzt viele Debatten.         

 

Demokratische Sinfonie                                                
von Paul Brody                                                      
Regie und Konzept: Kevin Barz, Musikalische Leitung: Vito Cristofaro, Bühne: Anika Wieners, Kostüme: Britta Leonhardt, Textfassung: Kevin Barz, Anna-Teresa Schmidt, Dramaturgie: Anna-Teresa Schmidt, Tonregie: Daniel Dorsch, Dierk von Domarus, Video: Kevin Barz.
Mit: Zainab Alsawah, Matthias Kleinert, Sophie Köster, Fabian Kulp, Thomas Lichtenstein, Caroline Nagel, Jens Ochlast, Yasin Özen, Johannes Schumacher, Anna Seeberger, Rebecca Seidel, Helen Wendt, Oldenburgisches Staatsorchester.
Premiere am 17. Juli 2021
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.oldenburgisches-staatstheater.de

 

Kritikenrundschau

"Das Gesamtkunstwerk präsentiert sich perfekt", ist Markus Behrens für Bremen Zwei (18.7.2021) beeindruckt. Brodys Komposition funktioniere in der Hybridität mit dem Schauspiel "hervorragend in einer Mischung aus filmreifer Akzentuierung und Programmmusik wie zum Beispiel in 'Peter und der Wolf' von Sergei Prokofjew". Der Abend sei ein "gelungenes Projekt, besonders passend zur heißen Phase des Wahlkampfs".

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