Fünf Löcher im Himmel - Rocko Schamoni kommt bei der Oldenburger Selbstinszenierung seines Roman nicht über ein Unentschieden hinaus.
Wellensittichweltverschwörung
von Tim Schomacker
Oldenburg, 16. April 2016. Ein in den Bühnenboden eingelassenes Laufband. Dahinter eine Leinwand mit langsam fortziehender Gegend in Schwarz-Weiß drauf. Davor ein Quadratmeterbündel Bühnenregen, der in einem Rost verschwindet. Darauf Paul. Ende sechzig. Thomas Birklein geht ihn so, dass nie ganz klar ist: Läuft er von irgendwo, vor irgendwas weg? Oder doch eher irgendwas oder -wem entgegen? Kaum mehr als Mantel, Seesack und eine uralte Armeepistole seien ihm geblieben, sagt Paul in forciertem Spaziergangtempo. "Ich gehe die Pfade meiner Jugend ab, um herauszukriegen, wie ich der geworden bin, der ich bin."
Szenen aus dem Kneipenleben
Das Eingangsbild fasst diesen Paul ganz gut, den wir in seinen letzten Tagen und Wochen kennenlernen. Und dazu in einem knappen Zeitabschnitt als 17-Jährigen, eine Phase, in dem sich alles zusammenklumpt und -ballt, was Pauls späteres Leben so beeinflusst und kanalisiert haben dürfte. Autobiographisches Arbeiten als Tretmühle. Erst als er (fast) gar nichts mehr (zu verlieren) hat, fragt Paul sich verstärkt nach den Gründen dieses lange leise schiefgelaufenen Lebens. Dessen Urtext gewissermaßen führt Paul in Form eines fünfzig Jahre alten Tagebuchs nicht nur mit, sondern sich vor Augen. "Ich bin die Summe meiner Anlagen, Erfahrungen und Verhältnisse", lässt Rocko Schamoni seine Paul-Figur in dem Roman "Fünf Löcher im Himmel" denken, dessen Bühnenfassung er nun selbst in Oldenburg inszeniert. "Dass sich daraus keine positive Kombination ergeben konnte, ist das, was man Schicksal nennt. Mit anderen Worten: Pech".
Dieses Pech klebt manchen Menschen an den Schuhen wie der klebrige Boden einer abgerockten Kiez-Kneipe. Einigermaßen mittel- und ziellos landet Paul "bei Pocke". Der gleichnamige Kneipier kann und mag nicht mehr, macht grad' seinen Laden dicht, als Paul hereinschneit. Letzte Lokalrunde aufs Haus. Gleiche Konstruktion: Hinten Leinwand (hübsch abstruse Kneipenszene, schwarz-weiß), vorne der wuchtige, dabei aber als Kulisse ausgestellte Tresen. Und dazwischen, auf seinem "Laufband" zwischen Spüle und Batida de Coco-Flasche: Pocke. Gescheiterter Koch, gescheiterter Schlagerfuzzi und nun dem monetären Druck weichender Wirt.
"Bei Pocke" wirft nichts mehr ab, also wirft Pocke die Kneipe weg. Da kommt Paul ihm grad recht. Pocke hat bisschen Geld und einen japanischen Sportwagen. Er bietet sich als Fahrer an, "auf den Pfaden deiner Jugend". Mit erkennbarem spielerischem Vergnügen begeben sich Birklein und das körperlich wuchtige Oldenburger Schauspielurgestein Thomas Lichtenstein an die trunkene Besiegelung des Paktes ihrer Figuren.
Der Sittich ist ein Punk!
An dieser Stelle bricht das einzige Element des anderen Rocko Schamoni über den Abend herein, das des elegant-grotesken, gezielt Pointen umgehenden, gradlinig-abstrusen Rocko Schamoni der Konzerte oder Shows von Studio Braun. Denn in Pockes nun bald ehemaliger Kneipe setzt Regisseur Schamoni eine riesige Vogelkäfigstange. Und auf diese einen riesigen Wellensittich mit lädiertem Gefieder und genervtem Getschilpe. Es ist Pockes Sittich Wolfgang. Jens Rachut, Sänger diverser Deutschpunk-Outfits von "Dackelblut" bis "Oma Hans", verleiht dem Vogel humpelnd und stolpernd, kieksend und röchelnd eine dermaßene Präsenz, dass diese den gesamten Abend fast aus den Angeln hebt.
Weil? Weil Wolfgang zwar Paul und Pocke irgendwie begleitet bei Landstraßen-Lebenserzählungen, Top-Hotel-Zechprellerei, Dorfgemeinschaftskneipensentimentalität. Aber eigentlich ist Rachuts fröhlich klobiger Wolfgang einfach nur da. Schiere Präsenz. Die in einem Nach-Schluss-Bild dann auch noch absichtsvoll-abwegig überhöht wird, wenn Rachuts Federvieh in einer Mitteilung an die Basisstation "die Aktion abbricht" und alle "zum Mutterschiff zurück" beordert. Außerirdische Wellensittichweltverschwörung.
Derartiger Absonderlichkeiten hätte es gern mehr haben können an diesem Abend: Die Auseinandersetzung des alten mit dem jungen Paul (Rajko Geith) in einer hübsch Lebensentwürfe abgleichenden Spiegelszene. Die verschwiegene, dann verhaltene, schließlich verquere Liebe zu Katharina aus der Schulschauspiel-AG. Die komischen Episoden aus Pockes Schlager-Vergangenheit im (erneut vor Leinwand) gemeinschaftlich hinpantomimisierten Sportwagen. Die Titel gebenden "Fünf Löcher im Himmel", die Paul im Schlussbild mit seiner Uraltpistole in diesen hineinschießt und dann schließlich der Moment, als er auf dem Laufband geht, stolpert, liegenbleibt. Dahinter eine Filmsequenz einer in Zeitlupe unter Wasser sich verlierenden Kamera.
Viel mehr als nett und solide aber kommt da nicht. Vielleicht, weil Schamoni den unaufgeregt (be)drängenden Grundgestus seines Romans nicht gänzlich auf die Bühne wuchten kann. Mag daran liegen, dass dort Einsam- und Ausweglosigkeiten, aber auch rare Glücksmomente monologisch daherkommen. Und Schamoni vielem davon durch dialogische oder szenisch-plauderige Auflösung jenes eigenartig Anrührende nimmt, dass einem im Roman für Figur und Geschichte eingenommen hat. Ein klassisches Unentschieden, das keinem so richtig weiterhilft.
Fünf Löcher im Himmel
Von Rocko Schamoni
Regie: Rocko Schamoni, Bühne, Kostüme: Dorle Bahlburg, Marysol de Castillo, Musik: Jonas Landerschier, Licht: Ernst Engel, Videographie: Christopher Fromm, Thomas Birlklein, Dramaturgie: Mark-Oliver Krampe.
Mit: Franziska Bald, Thomas Birklein, Diana Ebert, Rajko Geith, Thomas Lichtenstein, Maximilian Pekrul, Jens Rachut, Rocko Schamoni, Justine Wiechmann.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.staatstheater.de
Begeistert ist Regina Jerichow in der Nordwestszeitung (18.4.2016): Als Theaterstück gewinne Schamonis Buch an Witz – "sofern man es, wie Schamoni, so hemmungslos und so cineastisch inszeniert". Das Konzept gehe auf – wegen der hervorragenden Schauspielerriege und wegen der Videosequenzen, "die sich nahtlos einfügen, bis Spiel und Film eins werden".
Schamoni und sein Dramaturg Marc-Oliver-Krampe sparen in ihrer Fassung "durch den ruchbaren Willen zur Stringenz so viele Vorgeschichten und Motive, Intermezzi und Zwischentöne aus, dass sie dürftig, passagenweise sogar beliebig bis belanglos wirkt", findet hingegen Hendrik Werner im Weser-Kurier (18.4.2016). Die Akteure mühten sich redlich, eine gangbare Schneise zwischen melancholische Lebensrückschau und subversiven Galgenhumor zu schlagen. "Und doch geht die Spielbeziehung zwischen Gegenwart und erinnerter Vergangenheit selten so gut auf wie in der Vorlage. Lies: Die Inszenierung bleibt über weite Strecken fade, ja flach."
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