Anthropolis V: Antigone - Schauspielhaus Hamburg
Düstere Poesie eines Endzeitalters
11. November 2023. Fünf Teile hat das Theben-Projekt "Anthropolis" von Karin Beier und Roland Schimmelpfennig – ein Panoramablick auf die Gründungsmythen der europäischen Zivilisation. Der Abschluss der Theaterserie gilt Sophokles’ Antigone, gespielt von der Ausnahmeerscheinung Lilith Stangenberg.
Von Stefan Forth
11. November 2023. Weiße Staubschwaden ziehen von der Bühne ins Publikum. Eine junge Frau wirbelt sie hartnäckig immer wieder neu auf, während sie verbissen für ihre Überzeugungen kämpft. Bei Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg ist Sophokles' "Antigone" eine rasende Ruhelose in einer Welt voll männlichem Wahnsinn. Der fünfte und letzte Teil der Antiken-Saga "Anthropolis" begräbt den letzten Rest an Hoffnung in das, was wir Menschen Zivilisation nennen.
Rechtssicherheit als fixe Herrscher-Idee
Nach all dem mythologischen Aberglauben, Göttergezänk, Schicksalsfluch und Familienzwist der vergangenen Folgen soll dieses Mal die reine Vernunft für Ordnung sorgen. Ernst Stötzner hat als Kreon die Macht übernommen und steht für Rechtssicherheit in der Stadt Theben, für einklagbare Gesetze, die für jeden und jede gleich gelten sollen. Law and Order, Regeln und Gehorsam erweisen sich allerdings schnell als nichts mehr und nichts weniger als einfach nur die nächsten Götzen in einer langen Reihe von Sinngebungsmodellen für das Chaos der Welt. Eine fixe Idee löst die nächste ab.
Denn dieser Kreon ist alles andere als der rationale Technokrat, für den er sich gerne ausgibt. Hinter seinem würdevoll weißen Bart (Marke: elder statesman) verbirgt sich die Angst vor Kontrollverlust, vor denen, die gegen ihn sein könnten, weil sie nicht vorbehaltlos für ihn sind. Ernst Stötzner spielt alle Nuancen dieses spät berufenen Herrschers voll aus, manchmal nur mit wenigen Blicken, Gesten – oder indem er irgendwann hilflos in sich zusammengefallen an einem der fünf schwarzen, schmucklosen Tische auf der Bühne kauert.
Aus Prinzip will dieser Kreon Antigones Bruder Polyneikes nicht beerdigen lassen, der sich (in der großartigen Folge IV dieser Saga) seinen versprochenen Teil der Macht in Theben mit Gewalt holen wollte. Seine Leiche liegt vor den Toren der Stadt, und Wächter sollen dafür sorgen, dass sich höchstens aasfressende Tier daran bedienen, aber jedenfalls kein Mensch dem Toten eine letzte Ehre erweist.
Gewaltige Gefühle und verzweifelte Verletzbarkeit
Für Lilith Stangenbergs Antigone ist das eine Horrorvorstellung. Daran lässt die Inszenierung von Anfang an nicht den geringsten Zweifel. Ebenso wenig daran, dass dieser Frau mit Vernunftargumenten nicht beizukommen sein wird. Sie stürzt sich mit Wucht in ihre Gefühle, beruft sich auf ein höheres Natur- oder Götterrecht und will den toten Körper ihres Bruders zumindest mit dem kalkweißen Staub bedecken, der größere Teile der gleißend kalt ausgeleuchteten Vorderbühne einnimmt und der sich nach und nach auch in die ersten Reihen des Zuschauerraums verteilt. Wenn Antigone tobt und sich darin wälzt, ist nichts mehr vor den schwebenden Partikeln sicher, und im Laufe des Abends werden die betont schwarzen, oft schlichten Klamotten aller anderen Figuren damit beschmiert. Diesen gewaltigen Gefühlen kann sich niemand entziehen.
Lilith Stangenberg ist das atemberaubende Kraftzentrum des Abends. Diese wahnwitzige Spielerin ist eine grenzenlose Ausnahmeerscheinung – das ist spätestens seit ihren Ensemblezeiten an der Berliner Volksbühne nichts Neues mehr. Mit wenigen Sätzen und ein paar Songzeilen führt sie eine Antigone vor, die sich von Beginn an auch selbst inszeniert, am eigenen Denkmal arbeitet, dessen Sockel sie mit weißen Ziegelsteinen überhöht, bevor sie sich darauf in Pose kniet. Mit langen, in die Stirn gekämmten (Perücken-)Haaren und weit aufgerissenen Augen erinnert sie manchmal an die Fanatikerinnengeneration um Gudrun Ensslin, und wenn sie im Brautschleier mit einem Skelett im Arm über die Bühne tanzt, schwingt eine gruselige (Selbst-)Zerstörungswut mit. Große Bilder von Verzweiflung und Verletzbarkeit, die da auf der düsteren Bühne Johannes Schütz entstehen.
Zeitgemäß nuancierter Blick auf Sophokles' Antigone
Stark auch, wie es Regisseurin Karin Beier schafft, für jede ihrer Figuren Verständnis zu entwickeln – und sie gleichzeitig alle ihrer fehlbaren menschlichen Egozentrik zu entlarven. "Du bist maßlos", hält etwa Ismene ihrer Schwester Antigone vor, und versucht, ihr die Beerdigungspläne gegen den erklärten Willen des Herrschers als sinnlos auszureden: "Du machst Dir höchstens die Fingernägel dreckig." Als die Sache auffliegt, zeigt sich Ismene solidarisch – aber möglicherweise nicht nur aus reinem Altruismus und Schwesterlichkeit, sondern vielleicht auch, weil sie gerne selbst auf dem Denkmalsockel stehen möchte. Josefine Israel lotet diese Frau mit feinem Gespür für Zwischentöne aus.
In dramaturgisch kluger Verdichtung und einer sprachsensiblen Neuübertragung des Stoffs durch Roland Schimmelpfennig entsteht so ein zeitgemäß nuancierter Blick auf die "Antigone", der sich im Vergleich zu anderen Teilen dieses Antikenprojekts verhältnismäßig nah an der Vorlage bewegt. Anfangs kommt die Erzählmaschinerie dabei noch nicht so recht in die Gänge, und es dauert, bis sich das Ensemble aus einer statisch konventionellen Grundkonstellation freispielt, bis die rationale Strenge rund um Antigone in Bewegung gerät, bis das Konzept lebendig wird.
Erschütternde Wumms-Effekte Richtung Gegenwart
Mit Trommeln, Rausch und Comic Relief hat die Anthropolis-Serie im ersten Teil überbordend angefangen, hat mit augenzwinkernder Spiellust und auf voller Bühne mit Menschen, Tieren, Sensationen gezeigt, dass unsere Welt vermutlich selbst in mythischer Urzeit höchstens für einen ganz kurzen Sehnsuchtsmoment mal so wirklich in Ordnung war. Wenn überhaupt. Einige unerhörte Gewaltspiralen später endet die Antikensaga nach letzten Ausbrüchen von Rechthaberei und Raserei betont leise und nachdenklich. Mit der düsteren Poesie eines Endzeitalters, fast wie bei Beckett.
Anfangs ist Anthropolis gerne mal mit einer Netflixserie verglichen worden, und tatsächlich haben Karin Beier und Roland Schimmelpfennig Cliffhanger eingebaut, Spannungsbögen auch mal von Folge zu Folge gezogen, einzelne Figuren entwickeln sich über Episodengrenzen hinweg weiter, und demnächst gibt es auch die Gelegenheit zum Binge-Watching: alle fünf Teile am Stück an so genannten Marathon-Wochenenden. Letztere seien hiermit wärmstens empfohlen, aber gerade nicht, weil sich damit ein Stück Streaming-Welt auf der Hamburger Schauspielhausbühne erleben ließe. Sondern weil das Inszenierungsteam mit Anthropolis beweist, wie zeitgemäß, abwechslungsreich, unterhaltsam und relevant das gute, alte Erzähltheater sein kann.
Nicht jeder Teil hat die gleiche Schlagkraft, nicht alle Episoden sind gleich aufregend, die Spannungsdichte variiert, manches macht einfach nur Spaß, anderes zieht vorbei, einiges berührt – und dann gibt es Momente mit einem wirklich erschütternden Wumms-Effekt Richtung Gegenwart. Eine große Leistung von Regisseurin, Dramaturgie und Autor: immer wieder neue, unterschiedliche ästhetische Zugriffe zu finden, mit sprachlicher und spielerischer Leichtigkeit von heute große Stoffe der Antike zu erzählen, jeden Abend für sich stehen zu lassen und aus den Einzelteilen ein Ganzes zu formen. Ein Theater so reichhaltig und vielfältig, so lustig und traurig wie das Leben. Ein gewaltiges Projekt.
Anthropolis V: Antigone
von Roland Schimmelpfennig nach Sophokles
Regie: Karin Beier, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Wicke Naujoks, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Annette ter Meulen, Körperarbeit: Valentí Rocamora i Torà, Dramaturgie: Sybille Meier, Christian Tschirner.
Mit: Ute Hannig, Josefine Israel, Jan-Peter Kampwirth, Maximilian Scheidt, Lilith Stangenberg, Ernst Stötzner, Michael Wittenborn.
Premiere am 10. November 2023
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Nachtkritiken gibt es zu allen Teilen der Anthropolis-Zyklus:
Anthropolis I: Prolog/Dionysos – Karin Beier vernetflixt die Antike
Anthropolis II: Laios – Karin Beier und Roland Schimmelpfennig setzen ihre Theaterserie über die Geschichte des antiken Theben fort
Anthropolis III: Ödipus – Karin Beiers und Roland Schimmelpfennigs dritter Teil der Theaterserie über das antike Theben
Anthropolis IV: Iokaste – Karin Beier inszeniert "Iokaste", den vierten Teil der Hamburger Antiken-Reihe, als gegenwartsnahes Macht- und Gewaltspiel
Kritikenrundschau
"Es ist ein furioses, gewaltiges Räderwerk, was Regisseurin Karin Beier in Gang setzt. Antigone tanzt mit einem Skelett, vermählt sich mit den Toten. Das sind große Bilder, barock, vor dem Schwarz der Bühne," so Peter Helling bei NDR-Kultur (11.11.2023) Was diesen glänzenden Abschluss der Antiken-Serie aus Sicht des Kritikers von den anderen Teilen unterscheidet: "Er wirkt fast altmodisch konsequent. Es ist Theater - mit Dialogen, Situationen, Figuren." Als herausragend wird Lilith Stangenberg beschrieben.
Karin Beiers gesamter, "zehnstündiger Pessimismusmarathon" pendele zwischen den Polen, dass Geschichte sich "das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce" ereigne, fasst Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (12.11.2023) den Zyklus zusammen. Es werde "in aller Ausführlichkeit auch wachgerufen", dass "Theaterblut und Spuckeregen verschleiern, dass die entscheidende Form der Gewalt heutiger Konflikte die kalte Sprache ist". Die Figuren dieser "Gewaltspirale in den Hades" würden "von intensiv agierenden Schauspielerinnen und Schauspielern in all ihrer destruktiven Kraft hell ausgeleuchtet".
"Den Weg vom Mythos zum Logos, von einer durch göttlichen Willen gelenkten Welt hin zu einer von menschlicher Vernunft gesteuerten, zeigen Schimmelpfennig und Beier als blutige, grausame, aber auch oft heitere Soap", schreibt Wolfgang Höbel im SPIEGEL (11.11.2023). Und obwohl dieser "Klassikerkrawall" aus "ziemlich konventionellen Mitteln" gebaut sei, sei Zyklus "berührend, intelligent, manchmal auf sympathische Weise irre", so Höbel.
"Auf keine der unzähligen Fragen, die Sophokles und Schimmelpfennig aufwerfen, maßt sich Karin Beiers schnörkellos klare, ästhetisch bestechende Inszenierung eine Antwort an", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (14.11.2023). Lieber vertiefe die Regisseurin mit ihrem ausgezeichneten Ensemble "die Abgründe der Tragödie und verlängert sie in den Zuschauerraum hinein. In ihrem entschieden neutralen, sämtliche Standpunkte kühl prüfenden Requiem gewinnen die antiken Figuren vitale Präsenz, die Debatten bestürzende Aktualität."
Je länger der Zyklus dauere, desto mehr verliere Karin Beiers Inszenierung den Gestus de Faxenhaftigkeit, und "aus lässigen, zur Haftung unfähigen, schmerzunempfindlichen De- und Rekonstrukteuren einer Geschichte werden Gestalten, die etwas erleiden. Die das Format haben, einen Fluch zu tragen", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (16.11.2023). Schimmelpfennig füge den Originalen nichts Wesentliches hinzu, sondern reduziert sie. "Die Schauspieler sind stark, Carlo Ljubek als Dionysos, Devid Striesow als Ödipus, Ernst Stötzner als Kreon, Karin Neuhäuser als Priesterin, Julia Wieninger als Iokaste und im letzten Teil: Lilith Stangenberg, eine Schauspielerin, deren Auftritte stets wie Opfergaben wirken und die sich als Antigone in den Staub Thebens förmlich eingräbt – und doch leidet ihre Präsenz unter dem starken Formwillen von Karin Beiers Regie."
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