Haben Sie Vorstrafen?

9. August 2024. Lola Arias bringt in ihrer neuen Produktion Haftentlassene auf die Bühne. Sie erzählen die Geschichten ihrer "Tage draußen" nach der Entlassung in Form eines Musicals. Uraufgeführt beim Festival d'Avignon, ist "Los Días Afuera" nun auf seiner Tour im deutschsprachigen Raum angekommen und hatte Premiere beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel Hamburg.

Von Falk Schreiber

"Los Días afuera" © Eugenia Kais

9. August 2024. Die Drogenkurierin. Die Sexarbeiterin. Die Migrantin. Der trans Mann und Aktivist. Lola Arias hat lange Gespräche mit Personen geführt, die in Argentinien im Gefängnis saßen, für einen dokumentarischen Films namens "Reas", der deren Zeit in Haft beschreibt. Das parallel entstandene Theaterstück "Los Días Afuera / The Days out there" dagegen handelt von der Zeit nach der Entlassung, von den Versuchen, im Alltag anzukommen, von Unsicherheiten und Exzessen, von der Angst, wieder straffällig zu werden. Arias' Protagonist:innen zählen die Tage seit ihrer Freilassung: 800 Tage, 900, 1500. Wenn er es bis Oktober schafft, dann hat er seinen persönlichen Rekord gebrochen, sagt Natal Delfino. Er wünscht es sich, er ist nicht sicher, ob er daran glaubt.

Singende Haftentlassene

Lola Arias ist mittlerweile eine der profiliertesten Vertreterinnen des Dokumentartheaters, aber "Los Días Afuera", uraufgeführt beim Festival d’Avignon und jetzt nach einer Zwischenstation in Barcelona beim Internationalen Sommerfestival im Hamburger Produktionshaus Kampnagel zu sehen, geht einen Schritt über das Dokumentarische hinaus. Auf Mariana Tiranttes Bühne stehen nämlich nicht nur die sieben Haftentlassenen und referieren ihre Schicksale (das machen sie auch, und zwar mit einer nicht uninteressanten Distanz zu sich selbst), sie singen auch noch: "Los Días Afuera" bedient das wahrscheinlich unauthentischste Genre überhaupt, das Musical, was eine spannende Fallhöhe zur Authentizitätsbehauptung des Dokumentartheaters aufmacht.

Lola Arias Los dias afuera c Carlos Furman 7Im Spotlight der Taschenlampe: Die Spieler*innen von "Los Días afuera" © Carlos Furman

Mit dieser Differenz spielt Arias. Ihre Darsteller:innen sind ja keine Profis, sie treffen nicht immer den richtigen Ton, sie versuchen gar nicht erst, sich in Rollen einzufühlen, aber sie bringen ein Wissen vom Leben innerhalb der Gefängnismauern mit, das eine Qualität für sich ist. Sie können berichten, von spirituellen Ritualen, von Knast-Tattoos, auch von Romantik und von Sexualität. Und die von Inés Copertino an Gitarre, Bass, Schlagzeug und Synthesizer begleiteten Songs machen dann eine zweite Ebene auf: die der Verheißung, die Popmusik auch unter Gefangenen ist – wenn zum Beispiel Paulita Asturayme sich aus der Trostlosigkeit des Alltags in den Sound ihres Cumbia-Orchesters träumt. Der Abend bekommt so zwar Züge einer Nummernrevue, Song und Erzählung wechseln einander ab, aber diese Nummern haben Charme. 

Teufelskreise des Ausgeschlossenseins

Tatsächliche Spielszenen gibt es wenige. Einmal werden Bewerbungsgespräche durchexerziert, die mal absurd sind, mal professionell, mal geprägt von echtem Interesse am Leben der Bewerber:innen. Und die am Ende doch immer auf eine Frage zulaufen: "Haben Sie Vorstrafen?" Dann brechen die Gespräche ab, "Danke, wir melden uns", es ist ein Kreislauf, aus dem sich kaum entkommen lässt. Einzig Delfinos Schicksal sticht heraus: Er berichtet, wie er eine Lokalpolitikerin davon überzeugte, dass eine Quote für trans Personen in der Stadtverwaltung eine gute Idee sei, und wie er so tatsächlich zu einem legalen Job kam. Zumindest vorläufig: Die neue Regierung habe seine Stelle sofort gestrichen. Das Stück erzählt so auch von der Veränderung innerhalb der argentinischen Gesellschaft in Zeiten von Javier Mileis Paläolibertarismus.

Lola Arias Los dias afuera c Eugenia Kais 2Musical meets Dokumentartheater © Eugenia Kais

Hin und wieder wird in einem Kleinwagen vor einem Greenscreen gespielt: Die Protagonist:innen zuckeln so durch nichtssagende Vorstädte und plaudern, es entsteht eine Roadtrip-Stimmung, in der die Handlung vorangetrieben wird. Nur einmal bekommt das Auto eine Funktion, die über die szenische Ordnung der Figuren hinausgeht, als Ort, an dem die Freiheit brüchig wird. Was passiert, wenn die Polizei einen zur Seite winkt? Ist am Fahrzeug alles in Ordnung? Papiere dabei? Finden die Beamten einen Grund zur Provokation? Die Staatsmacht ist grundsätzlich kein Freund und Helfer, und Noelia Perez beschreibt eindrücklich, wie ihr das direkt nach ihrer Freilassung demonstriert wurde.

Wut und Sehnsucht

Drastik, Gewalt, auch Hoffnungslosigkeit sind immer wiederkehrende Motive in "Los Días Afuera". Sie sind aber nicht das, worum es hier zentral geht – Arias will vor allem marginalisisierten Positionen Stimmen geben, und diese Stimmen sind nicht hoffnungslos, sie sind wütend, sehnsüchtig, ironisch. Und nicht zuletzt selbstreflexiv: Delfino erzählt, dass er für seine Behausung, die nicht ans Wassernetz angeschlossen sei, einen Wassertank gekauft habe. Mit welchem Geld? Mit dem Honorar, das ihm für die Teilnahme an der Theaterproduktion gezahlt worden sei.

"Los Días Afuera" geht im Anschluss an die Erstaufführung im deutschsprachigen Raum in Hamburg weiter auf Tour: zum Züricher Theaterspektakel, zum International Festival Basel, im September ins Berliner Maxim Gorki Theater. Womöglich bricht Delfino seinen Freiheitsrekord im Oktober.

Los Días Afuera / The Days out there
Von Lola Arias
Text, Regie: Lola Arias, Bühne: Mariana Tirantte, Künstlerische Mitarbeit: Alan Pauls, Kostüm: Andy Piffer, Video: Martin Borini, Technische Leitung, Lichtdesign: David Seldes, Komposition: Ulises Conti, Inés Copertino, Musik: Inés Copertino, Sound Design: Ernesto Fara, Stage Hand: Andrés Pérez Dwyer, Choreografie: Andrea Servera, Regieassistenz: Pablo Arias Garcia, Produktion, Tour Management: Emmanuelle Ossena & Lison Bellanger, EPOC productions, Produktion, Administration: Lola Arias Company, Mara Martínez, Tour Management: Lola Arias Company, Lucila Piffer, Produktion, Administration Argentinien: Luz Algranti & Sofia Medici, Technische Produktion: Ezequiel Paredes, Produktionsassistenz: Juan Manuel Zuluaga Bolivar, Bühnenassistenz: Lara Stilstein, Assistenz Technische Direktion: Facundo David, Casting: Talata Rodriguez (GEMA Films), Legal Advice: Felix Helou, Soziale Arbeit: Soledad Ballesteros & Matias Coria, Dramaturgie: Bibiana Mendes.
Mit: Yoseli Arias, Paulita Asturayme, Carla Canteros, Estefania Hardcastle, Noelia Perez, Natal Delfino (als Ersatz für Ignacio Rodriguez), Inés Copertino.
Uraufführung am 4. Juli 2024, Festival d’Avignon
Deutsche Erstaufführung am 8. August 2024, Kampnagel Hamburg
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de
www.lolaarias.com

 

Kritikenrundschau

"Man kann beobachten, wie intensiv und genau die mit dem diesjährigen Ibsen-Preis ausgezeichnete Theatermacherin mit den Amateuren gearbeitet hat. Und wie klug ihre Entscheidung ist, das Ganze in einer überraschenden Form zu erzählen: als Musical", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (10.8.2024). "Die Gesangsnummern sind schlüssig mit den Inhalten montiert und schaffen eine wohltuende Distanz zu den teils erschütternden, von Selbstreflexion geprägten Erzählungen – etwa, wenn die Sexarbeiterin und Transfrau erzählt, wie sie ihre Vorderzähne eingebüßt hat. Trotz der Hindernisse in Freiheit geben die Spielenden ihrer Wut, ihren Sehnsüchten, aber auch ihrer Lebensfreude einen eindringlichen Ausdruck. Und erringen dabei ein Stück Selbstermächtigung."

Die Songs verliehen dem Abend den Charakter einer Nummernrevue, schreibt Andreas Schnell im nd (9.8.2024). "Aber das ist schon in Ordnung. Es stülpt diesen Menschen keine Form auf." Die euphorische Innigkeit, mit der sie singen, tanzen und spielen, sei nicht zu übersehen. "Und wenn sich romantischer Zuckerguss andeutet, ist der nächste Bruch nicht fern."

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