Internationales Sommerfestival - Kampnagel Hamburg
Isn't it ironic
von Falk Schreiber
Hamburg, 11. August 2019. Das Internationale Sommerfestival Hamburg ist treu. Mit bestimmten Künstlern arbeitet man auf Kampnagel kontinuierlich zusammen, so dass von Jahr zu Jahr eine Art temporäres Repertoire entsteht, Stücke, die in Zusammenhang zueinander stehen und die so einen Kontrapunkt zur Beliebigkeit des Festivalzirkus herstellen. Immer wieder dabei ist zum Beispiel der eklektizistische HipHop-Musiker Josh Dolgin aka Socalled. Der Kanadier gibt regelmäßig Sommerfestival-Konzerte, inszeniert aber auch seit 2014 ein fortlaufendes Handpuppen-Musical namens "The Season" in Hamburg.
"Space – the 3rd Season": Wohlfühltheater mit Widerhaken
Aktuell läuft die dritte "Season"-Folge unter dem Titel "Space": eine reizende Mischung aus (durchaus kindgerechtem) Puppentheater, ironischem Hipstertum und von Folge zu Folge prägnanterer Musiktheorie. Nachdem im ersten Teil flauschige Außerirdische im von Abholzung bedrohten Wald landeten und im zweiten Teil ein aus der Begegnung mit dem schluffigen Bären entstandenes Alien-Kind auf die Erde kam, um seinen Vater zu suchen, reist der Bär jetzt auf den Planeten Flausch, um seine außerirdische Affäre Tina wiederzusehen. Klappt auch, allerdings hat die Flausch-Königin (Kiran Ahluwalia) ein strenges Gesetz erlassen, nach dem alle Auftretenden unisono singen müssen, woran sich der Bär nicht hält. Und deswegen abgeschoben werden soll.
Harmonieästhetik wird zur politischen Ideologie – als Thema für ein Musical, das sich unter anderem an Kinder richtet, ist das zwar verblasen, beweist aber zumindest Diskurshöhe. Zumal die Geschichte funktioniert: Auch ohne akademische Musikbildung fiebert man mit dem verliebten Bär, freut man sich über Tinas Kratzbürstigkeit. Und wippt spätestens nach fünf Minuten zu den Songs, die leichthändig HipHop, Tropicalismo und Klassik mixen. Auch weil Socalled zwar selbst hochprofessionell arbeitet, dem Perfektionismus des Musical-Entertainments aber eine lange Nase dreht, wenn Bär mit dem Alien Moonie einen neuen Freund gewinnt, der leider überhaupt nicht singen kann. (Dass Moonies Selbstbewusstsein erst mühsam aufgebaut wird, nur damit der Sympathieträger kurz darauf von einem Monster gefressen wird, zeigt im übrigen auch, was Socalled von den Konventionen des Genres hält: nichts.)
Allein: "Space" mag Spaß machen, mag klug, durchdacht und reflektiert sein, am Ende bleibt der Abend in den Grenzen des Musicals gefangen. Den avantgardistischen Anspruch des seit 2013 von András Siebold kuratierten Sommerfestivals erfüllt Socalled dann doch nicht, stattdessen inszeniert hier ein Alleskönner Wohlfühltheater mit Widerhaken, das einen unwiderstehlich umarmt – und auf Kampnagel irgendwie am falschen Ort ist.
"Wir treiben die Liebe auf die Weide": DDR-Schlager-Parade
Ebenfalls treu steht das Festival zur Hamburger (und Berliner) Indieszene. Jedes Jahr dürfen deren Mitglieder eigene Stücke zeigen, 2018 etwa Andreas Doraus verstolpertes Gentrifizierungsmusical "König der Möwen" und die konsequent humorlose Kolonialismus-Aufarbeitung "Das Haus der herabfallenden Knochen" der Bands Kante und Khoi Khonnexion. Dieses Jahr heißt der Popmusiker-Beitrag "Wir treiben die Liebe auf die Weide", kommt von den Theater-erfahrenen Carsten "Erobique" Meyer und Paul Pötsch und entpuppt sich als szenisches Konzert halb subversiver, halb sehnsüchtiger Schlager aus der DDR.
Praktisch alles, was Rang und Namen im hanseatischen Pop hat, steht hier auf der Bühne und singt: Albrecht Schrader intoniert Manfred Krugs "Wenn’s draußen grün wird" mit provozierender Lazyness, Pascal Finkenauer croont Karats "Der blaue Planet", und Pola Lia Schulten giftet Nina Hagens "Komm Komm" (aus dem der hübsch dadaistische Titel der Stücks entnommen ist); außerdem gibt der unvermeidliche Bernd Begemann den Conferencier. Dass das zumindest als Liederabend eine gewisse Theaterqualität hat, liegt über weite Strecken daran, dass die Beteiligten sich ihrer Rolle zwischen Bühnen- und Rockperformance ständig bewusst sind – die Regie Lea Connerts beschränkt sich darauf, zwischen den Songs kurze Videos einzuspielen, aus denen man erfährt, dass die Songs zwar weltläufig und cool klingen mögen, die Aufnahmen aber unter recht uncoolen Bedingungen entstanden sind.
"Wir treiben die Liebe auf die Weide" ist ein mitreißendes, nostalgisches Retro-Konzert, das die Frage nicht einmal streift, weswegen man sich 2019 in Hamburg ausgerechnet mit DDR-Schlagern auseinandersetzen sollte. Aber vielleicht ist das nur eine weitere ironische Wendung dieses ironiesatten Programms, die nachzuvollziehen immer unmöglicher wird. Eine Recherche auf den gängigen Streamingplattformen nach Musik von Lift oder Holger Biege jedenfalls legt dieser Abend einem nahe. Das Publikum: tobt.
"If You Want to Continue": anonyme Botschaft aus Russland
Man will nicht unfair sein: Das Internationale Sommerfestival setzt nicht ausschließlich auf erprobte Formate. Das russische Projekt Vasya Run etwa ist ein anonymes Kollektiv an der Grenze von Musik, Bildender Kunst, Performance und sozialer Arbeit. Sechs maskierte Performer stehen bei "If You Want to Continue" auf der Bühne, Glatzen, weiße Hemden, weite Hosen. Diese Schreckgestalten praktizieren eine Art Achtsamkeitsritual nach dem griechisch-armenischen Esoteriker Georges I. Gurdjieff (1866–1949): synchrone Bewegungsfolgen, liturgisch anmutende Gesänge, hermetische Gesten … bis die Performance nach einer Dreiviertelstunde unvermittelt als ultraaggressiver HipHop explodiert.
"If You Want to Continue" lässt sich als typisches Beispiel zeitgenössischer russischer Kunstproduktion lesen, die sich vor der Politik in Hermetik und Mystik flüchtet. Aber der kurze Abend erzählt auch etwas über brüchige Männlichkeit, über Integration und Ausschluss sowie über Gewaltimages und Sublimation – und weist so deutlich über die schwer zugängliche russische Situation hinaus. Dass das Projekt sich mit seiner Weirdness und unterschwelligen Bedrohlichkeit immer wieder selbst im Wege steht, ist das eine; das andere aber ist, dass sich das noch bis zum 25. August laufende Sommerfestival mit einer Arbeit wie dieser einen Ausweg aus der eigenen Ironiegestähltheit weist: als Struktur, deren heterogene Anlage eigentlich ziemlich viel ermöglicht.
Internationales Sommerfestival
7.-25.8.2019, Kampnagel Hamburg
Space – The 3rd Season
von Socalled & Friends
Regie: Josh "Socalled" Dolgin, Bühne: Eric Grice, Kostüme: Erin Fortier, Licht: Stefanje Meyer, Ton: Juliette Wion, Masken: Mathieu René, Projektionen: Michael Dubue, Live-Musik: Patrice Agbokou (Bass), Josh "Socalled" Dolgin (Piano), Kaiser Quartett, Matthew Woodley (Drums), Kasumi Itokawa (Harfe), Tanz und Choreografie: Hanako Hoshimi-Caines, Komponist: Josh "Socalled" Dolgin, Ouvertüre: Fred Wesley, Buch (Text): Joe Cobden, zusätzliche Texte: C-Rayz Walz, Puppendoktor: Eliane Fayad, Produktions-Management: Ryhna Thompson, Brian Neuman, Regieassistenz und Tour-Management: Stefanje Meyer, Video Trailer: Jonas Nellissen / siehsteproductions.com.
Mit: Joe Cobden, Katie Moore, Rich Ly, C-Rayz Walz, Michael Felber, Kiran Ahluwalia as The Queen, Puppenspiel: Jeremie Desbiens, Gabrielle Garant, Marcelle Hudon, Anne Lalancette.
Uraufführung am 8. August 2019
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
https://socalledmusic.com
Wir treiben die Liebe auf die Weide
von Carsten "Erobique" Meyer und Paul Pötsch
Idee, Dramaturgie, Musikalische Leitung: Carsten "Erobique" Meyer, Paul Pötsch, Arrangement, Musikalische Umsetzung: Carsten "Erobique" Meyer, Paul Pötsch, Polly Lapkovskaja (Pollyester), Marcel Römer, Pola Lia Schulten, Regie: Lea Connert, Bühnen: Isabelle Kaiser, Kostüm: Isabelle Kaiser, Benjamin Burgunder, Bühnenbau: Leo Rau, Videodesign: Rosanna Graf.
Gäste: Bernd Begemann, Pascal Finkenauer, Sidney Frenz, Juno Meinecke, DJ Patex, Jan Schnoor, Albrecht Schrader, Anna Suhr mit special appearance von DAS BO.
Uraufführung am 7. August 2019
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
If You Want to Continue
von Vasya Run
Regie: Vasya Run.
Mit: Vasya Run.
Dauer: 55 Minuten, keine Pause
http://vasyarun.ru
www.kampnagel.de
Die Versöhnung sehr gegensätzlicher Kulturen sieht Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (11.8.2019) als das verbindende Element der Inszenierungen zur Festivaleröffnung: Wie immer "niedlich und herzenswarm, aber vielleicht in der dritten Staffel ein wenig seiner ursprünglichen anarchischen Erzählweise verlustig gegangen", findet der Kritiker die Socalled-Inszenierung "Space". Die "Umarmung von Ost- und Westdeutschland in musikalischer Harmonie" bei Carsten "Erobique" Meyer und Paul Pötsch habe der Eröffnung "versöhnende Laute" mitgegeben, so Briegleb, während Vasya Run "aus der Symbolik von Männergangs einen sonderbaren Spiritismus" komponierten, "eine rätselhafte Atmosphäre aus Okkultismus, Poesie, Aggression und Männerbündelei".
"Herrlichste Theaterbehauptung“ ist es für Katrin Ullmann von der taz (11.8.2019), dass in "Space" der "Glamour aus ein paar Putzhandschuhen und Wischmops gezaubert wird,". Ein Happy End mache das Publikum glücklich, und doch erzähle Socalled wie nebenbei "mit klugen Texten, professionellen Puppenspielern und feinen Anspielungen von nichts weniger als der Gegenwart". Nicht mehr als die Schlagermusik der DDR der 70er Jahre wiederzubeleben, sei der Anspruch von "Wir treiben die Liebe auf die Weide". "Beklemmend vage" hingegen bleibe, was die russische Performancegrupppe Vasya Run umtreibe. Äußerlich bewusst gleichgeschaltet und uniformiert, changiere die Arbeit des Kollektivs "zwischen Mystik, Mönchtum und Männerkult". Stark irritiert hat die Kritikerin der gewaltverherrlichende Gestus, "so ungebrochen auf der Bühne zelebriert": "Wird Esoterik hier zum Deckmantel für moderne Freikorps-Romantik?" Mit der Kuscheligkeit sei es auf Kampnagel damit erst einmal vorbei.
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