Lasst mich in Ruhe! - St. Pauli Theater Hamburg
Tochter auf Abwegen
von Falk Schreiber
Hamburg, 5. April 2019. Mutter will nur das Beste für den Nachwuchs. Mutter ist aus Rumänien nach Hamburg migriert, putzt jetzt in der besseren Gesellschaft, wünscht sich nichts mehr, als endlich anzukommen. Und dass es dem Kind besser geht. Aber Tochter Charlotte versteht nichts. Sie malt. Provoziert. Ist unaufmerksam. Statt sich auf die Schule zu konzentrieren. Aber wofür dann alles? Wenn sie nicht aufpasst, fliegt sie noch von der Schule, ups, schon passiert.
Mutters Aufstiegswünsche
Klaus Pohl, der in den 1980ern als große Nachwuchshoffnung der deutschsprachigen Dramatik galt, hat mit "Lasst mich in Ruhe!" ein Stück geschrieben, das hinter einer Mutter-Tochter-Komödie ein durchaus ernstes Thema verhandelt: die Frage, inwiefern das Ankommen in einer migrantisch geprägten Gesellschaft mit einer Aufstiegsethik verknüpft ist, wenn man den Akt der Migration selbst als Aufstieg versteht. Charlotte jedenfalls verweigert sich diesem Leistungsgedanken und stellt damit die Lebensleistung von Mutter Marta selbst in Frage – als Konflikt ist das ziemlich relevant und heutig.
Die Uraufführung am Hamburger St. Pauli Theater durch Hausherr Ulrich Waller freilich schiebt den Konflikt erstmal beiseite und breitet fröhliche Privattheater-Konvention aus, mit schmissiger Live-Musik (Leitung: Jakob Neubauer), mit einem funktional-realistischen Bühnenbild (Nina von Essen), das Pohls häufige Ortswechsel elegant mit kleinen, genau beobachteten Ideen meistert, mit Kostümen (Ilse Welter), die die Charaktereigenschaften der Figuren doppeln.
Ein Flachwitz nach dem anderen
Alles eindeutig also, alles lustig, und immerhin funktioniert das oft – in einem furiosen Einstiegsmonolog von Edda Wiersch, die so von vornherein klarstellt, dass ihre Charlotte nicht in die Leistungsgesellschaft passt, freilich aber auch nicht passen will. Oder in der bemühten Lustigkeit von Martas Verlobtem Klaus (Stephan Schad), einem Vorortspießer, hinter dessen großspurigem Getue sich ein Mann versteckt, der verzweifelt versucht, sich irgendwie richtig zu verhalten. Dass allerdings gerade Schad, der als Schauspieler andernorts weitaus differenzierter spielt, hier dazu genötigt wird, einen Flachwitz nach dem anderen zu reißen, gibt der Inszenierung einen Drall ins Schenkelklopfen, von dem sie sich nicht mehr erholt. Auch als die Vorlage längst alle Lustigkeit verloren hat und in eine ziemlich abgründige Familientragödie gekippt ist.
Zwischentöne haben es hier schwer, was schade ist, weil immer wieder zu spüren ist, wie sensibel diese Figuren zueinander in Beziehung gesetzt sind – in den Mutter-Tochter-Szenen zwischen Wiersch und Eva Mattes etwa. Der Bühnen- und Fernsehstar Mattes ist bei Waller natürlich wegen seiner Publikumswirksamkeit besetzt, bewältigt die Aufgabe allerdings mit großem Sinn für Details. Wenn etwa Charlottes Bein bei den Mathe-Hausaufgaben zu zucken beginnt, ist das ein zurückhaltender Hinweis auf die bei ihr diagnostizierte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung; die Beiläufigkeit, mit der ihr die Mutter dann aber die Hand aufs Knie legt, beweist, wie genau Mattes ihre Figur skizziert.
Talfahrt ins Junkiedrama
Solche gelungenen Charakterstudien werden allerdings plattgewalzt vom gnadenlosen Willen zum Entertainment, der schon bei Pohl angelegt ist und von Wallers Inszenierung potenziert wird. Nicht zuletzt kommt Martas Migrationshintergrund bei Mattes gewollt daher. Ein phantasieslawischer Akzent jedenfalls macht noch keine Rumänin. Nach einiger Zeit gewinnt der uninteressanteste Aspekt von Pohls Drama die Oberhand: Charlotte wird von Klaus mit Ritalin ruhiggestellt und ins Internat verfrachtet. Wo sie zwar einerseits ein Einser-Abi hinlegt und so die Erwartungen ihrer Mutter erfüllt, andererseits aber zutiefst unglücklich ist und entsprechend tablettenabhängig wird.
"Lasst mich in Ruhe!" rutscht so auf den letzten Metern in ein Junkiedrama – und dass Drogen gefährlich sind, ist nicht das Thema, das an der Geschichte zu Beginn eigentlich spannend war. Fragen nach Migration und Leistung interessieren allerdings dort nicht mehr, wo die Inszenierung immer noch einen Spaß behauptet, obwohl es schon lange nichts mehr zu lachen gibt. Musik!
Lasst mich in Ruhe!
von Klaus Pohl
Uraufführung
Regie: Ulrich Waller, Bühne: Nina von Essen, Kostüme: Ilse Welter, Musikalische Leitung: Jakob Neubauer, Licht: Dorle Reisse.
Mit: Vincent Lang, Eva Mattes, Stephan Schad, Anne Weber, Edda Wiersch, Musiker: Jakob Neubauer, Gabriel Coburger. Uraufführung am 5. April 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.st-pauli-theater.de
"Bewusst sentimental, manchmal trivial, vor allem nie distanziert lässt Klaus Pohl hier die bodenständigen Wünsche der alleinerziehenden Einwanderin mit dem Selbstverwirklichungskonzept der nächsten Generation kollidieren", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (8.4.2019). Ulrich Waller inszeniere "schnell, intensiv und sauber vom Blatt weg". Alle Augen richten sich natürlich auf Eva Mattes, "die als Marta ein großes, verzweifeltes Mutterherz und eine verlorene Menschenseele zeigt." Der Abend ist "eine komplizierte Mutter-Tochter-Geschichte, andererseits die Empörung des Autors über das, was heute als Krankheit gilt und der Pharmaindustrie die Taschen füllt." Angesichts der Kaputtheit, der Tristesse und der verkrampften Lustigkeit draußen auf der Reeperbahn erscheine Klaus Pohls unerschrockener Abgesang sehr treffend. "Und Ulrich Wallers klare, kluge Inszenierung passt so gut wie beklemmend auch, aber nicht nur, in diese Umgebung – ohne Furcht, ohne Hoffnung."
Der Abend beginne "wie eine Boulevard-Komödie" und entwickle sich zur echten Tragödie, berichtet Daniel Kaiser im NDR (6.4.2019). "In den skurrilen Augenblicken (mit einem starken, komischen Stephan Schad) aber auch gerade in den ernsten Momenten, die immer wieder von Eva Mattes getragen werden, gelingt dem Ensemble ein sehr eindrucksvoller, berührender Abend in einem Stück, das wie das wirklich wahre Leben manchmal heiter, manchmal grotesk und manchmal auch tragisch ist und traurig."
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