Wüstenritter in der Hochhaussiedlung

von Katrin Ullmann

Hamburg, 5. November 2008. "Später will ich ein Star werden mit Privatjets und Luxuslimousinen  – oder zumindest Multimillionärin. Oder einfach nur glücklich". Die junge Frau ist Anfang 20, hat viele Träume, Wünsche und Hochglanzvorbilder. Sie ist eine von uns und doch eine andere. Eine mit Migrationshintergrund, mit einer fremdartigen Herkunft und mehreren Heimaten. Sie ist eine der sieben Jugendlichen, die Anukamis Geschichte erzählen. In Nuran David Calis' jüngstem Stück "Einer von uns".

Der Autor und Regisseur hat im Thalia in der Gaußstraße seine eigene Uraufführung inszeniert und das Stück über weite Strecken während der Proben entwickelt. Nicht ganz unbeteiligt daran waren die drei Schauspieler des Thalia Theaters (Leila Abdullah, Moritz Grove und Markus Graf) und acht Hamburger Jugendliche, die – laut Programmheft – "Kenntnis haben von den Codes und Styles der Straße und deren Erfahrungen, Biographien und Emotionen den Abend entscheiden prägen."

Sozialbauten mit Vogelschwärmen

Diese erstaunlichen, lässigen und zerbrechlichen Jugendliche stecken allesamt in schwarzen Kapuzenpullis (Kostüme: Irina Schicktanz), rappen, tanzen Hip-Hop und erinnern sich an Anukami, einen Freund, "einen von uns". Rückblickend erzählen sie seine Geschichte oder kauern sich an den Rand des Geschehens und lassen erzählen. Ein weißer Kubus mit anonymen Fenstern (super Bühnenbild: Irina Schicketanz)  steht mitten im Raum, ein paar sehr stimmungsvolle Schwarzweißprojektionen von Karnik Gregorian verorten das Geschehen in einen unliebsamen Vorort. Winterflüchtende Vogelschwärme und Sozialsiedlungsbauten inklusive.

Anukami, so erfährt der Zuschauer bald, ist mit allen Wassern gewaschen: Er lügt, prügelt und klaut. Seine Mutter (Leila Abdullah) einst aus dem Irak geflohen, hat sich mühsam eine schmale Existenz aufgebaut und versagt regelmäßig an den Stromrechnungen. So beginnt die erste Szene auch im völligen Dunkel. Nach und nach beleuchten ein paar Kerzen die allzu kleine Küche, die aus dem großen weißen Kubus rauseckt. Im Mutter-Sohn-Gespräch scheitert die kleine Frau schnell an ihrem kriminell gewordenen Sohn. Hin- und hergerissen ist sie zwischen Wut, Enttäuschung und Dankbarkeit, hat ihr Anukami (Moritz Grove) doch das Geld für die Stromrechnung organisiert. Und dieser verbringt, wenn er nicht gerade in kleinkriminelle Geschäfte verwickelt ist, die meiste Zeit mit seinen Freunden, seiner Gang.

Wilde Lust auf Datteln

Geschickt verzahnt Calis zwei Erzählebenen. Er macht Anukamis Einzelschicksal zum kollektiven Moment, die Erfahrungen der Gruppe wiederum zu Fragmenten aus dessen Lebenswelt. Diese wird sich bald verändern. Denn in einem Abbruchhochhaus begegnet Anukami einem mysteriösen Fremden, einem Obdachlosen. Er sei ein "Wüstenritter" behauptet der verwahrloste Mann und sondert eine Menge poetischer Texte aus fernen Welten und eine Hand voll arabischer Sprichwörter ab, bevor ihn eine wilde Lust auf Datteln überkommt. Dass dieser Fremde (Markus Graf) eigentlich Anukamis Vater ist, ist schnell klar. Ebenso wie die Tatsache, dass er gegen Stückende seiner Ex-Frau wiederbegegnen wird (dann erstaunlicherweise im schicken Anzug), die beiden sich eigentlich nicht verstehen und vielleicht doch noch lieben.

Nuran David Calis, Sohn armenisch-jüdischer Einwanderer aus der Türkei, hat ein Stück über Vater- und Orientierungslosigkeit geschrieben, über Heimat, Identifikation und Herkunft. Es ist ein recht konventionelles Stück mit wenig Wendungen oder Überraschungen. Doch es ist ein Stück voller Kraft, Dynamik und Selbstironie, spielerisch und stark, pathetisch und berührend. Das liegt vor allem an den großartig agierenden Jugendlichen, die alle ein kleines Stück ihrer Geschichte erzählen und damit ein großes über die Gesellschaft, in der sie leben. In der wir leben.

 

Einer von uns
von Nuran David Calis
Inszenierung: Nuran David Calis, Bühne und Kostüme: Irina Schicketanz, Musik: Vivan Bhatti, Video: Karnik Gregorian. Mit: Moritz Grove, Leila Abdullah, Markus Graf, Sebastiano Angelino, Gan Gülec, Guido Höper, Franklyn Kakyire, Linda Ngono, Zandile A. Ngono, Nadine Quittner.

www.thalia-theater.de

 

Mehr zu Nuran David Calis: im Mai 2008 inszenierte er am Schauspiel Köln mit Stunde Null Einwanderergeschichten aus Deutschland. Im März 2008 inszeniert er in Hannover Schillers Kabale und Liebe.

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (7.11.2008) moniert tlb (d.i. Till Briegleb) in wenigen Randzeilen, dass Nuran David Calis, der "als 'Sohn armenisch-jüdischer Einwanderer aus der Türkei' vom deutschen Theater zum 'Betroffenheits'-Fachmann für Emigrantenschicksale berufen" worden sei, hier "jedes Klischee zu diesem Thema im politisch korrekten Tonfall für wahr" vekaufe. Bei "Einer von uns" handle es sich um "trivial-dümmliches Gejammer", das Berufsschauspielern nicht zuzumuten sei, und das deswegen mit Studenten der HipHop Academy aufgeführt werde.

Schon einen Tag eher stieß Michael Laages im Deutschlandradio (6.11.2008, Textfassung hier) in ein ähnliches Horn. Ohne die jungen HipHopper hätte sich Nuran David Calis wohl kaum getraut, "dieses Stückchen zur Inszenierung freizugeben". Aber auch die Songs machten die Sache nicht besser, im Gegenteil. Denn deren schlecht gereimtes "Gejammer" sei ja "längst wie der Text auf einer Kitschpostkarte" – und das die Musikeinlagen umgebende Stück "noch viel dünner". "Zum Glück für dieses völlig theater-untaugliche Beschäftigungsprogramm für die 'HipHop Academy' haben wir offenbar ein derart elend schlechtes Gewissen, weil die Gesellschaft ja seit geraumer Zeit wieder echte Armut und echtes Elend schafft, dass wir diesen Schmarren nicht lauthals auspfeifen."

 

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