Eine Dosis Tod gefällig?

31. März 2023. Würdevoll und geräuschlos sollte man aus dem Leben scheiden. Eine Gift-Inhalation genügt. In Konstantin Küsperts düsterer Zukunftsvision "sterben helfen". Malte C. Lachmann bringt das Stück in Lübeck heraus – in einem Forschungsinstitut der Universität.

Von Katrin Ullmann

"sterben helfen" von Konstantin Küspert in Lübeck © Kerstin Schomburg

31. März 2023. Exaltiert, schmalgliedrig und herrlich dominant: In fliederfarbenem Kleid und mit extravaganter Brille steht sie da. Lädt wortreich zu ihrem Abschiedsfest ein. Dort wird sie, die Mutter (Susanne Höhne), noch eine pointierte Rede halten und sich anschließend selbst vergiften. Mit einem Inhalator, der jedem Erwachsenen zusteht. Mit "sehr schön, sehr würdevoll" wird ihr Tod kommentiert. So läuft das. Normalerweise. In dieser Welt, in der Konstantin Küsperts Stück "sterben helfen" spielt. In dieser Welt bleiben übrig: ein Witwer, eine Tochter, eine Schwiegertochter und ein Enkelkind.

Inhalieren für den würdevollen Tod

Der Witwer hat nun endlich Zeit für seine Reisen und fürs Tauchen. Freizeitgestresst und wendig spielt Robert Brandt diesen viel beschäftigten Rentner in Slim-Fit-Jeans. Mit wenig Empathie und noch weniger Zeit – für seine Tochter Lucy (Sonja Cariaso). Diese wiederum kämpft bald mit einer Krebsdiagnose. Sie muss ihr Kind abtreiben, und sich einer Chemotherapie unterziehen. Letzteres aber müsste sie ja eigentlich nicht, in jener Welt, in der Küsperts "sterben helfen" spielt. Denn dort haben alle Erwachsenen Zugriff auf den Inhalator mit dem tödlichen Gift und damit die Aussicht auf einen würdevollen, selbstbestimmten Tod.

sterben helfen2 Kerstin Schomburg uWer will denn so einfach aus dem Leben scheiden? Sonja Cariaso (Lucy) mit Rachel Behringer (Þrúðr) © Kerstin Schomburg

Warum sich Lucy jedoch dagegen entscheidet, bleibt bis zum Ende des Abends unklar. Auch, warum sie Wein und Sekt trinkt, obwohl sie schwanger ist. Und auch, warum sie, die erfolgreiche Marktingdirektorin, in ihrem eigenen Büro eigentlich immerzu stehen muss. Während es sich ihr Assistent oder Referent (Michael Fuchs, Vincenz Türpe) am Schreibtisch gemütlich macht.

Diese "Warums" mögen kleinlich erscheinen, aber sie haken sich merkwürdig unbefriedigend ein. Schließlich ist Lucy die Hauptfigur des Stücks. Und handelt anders als alle anderen. Sie gibt sich dem Leiden und der Hoffnungslosigkeit hin. Und irritiert damit nicht nur ihren Vater, sondern auch ihren Sohn Bellerophon (Johannes Merz), strapaziert ihre gefühlvolle Freundin Þrúðr (Rachel Behringer) und schockiert ihren behandelnden Föhnwellen-Arzt Dr. Asche (Jan Byl). Alle, das scheint Konsens zu sein, würden an Lucys Stelle zum Inhalator greifen. Nur Lucy nicht. Und so folgt man eine gute Stunde lang ihrem Leidensweg – Hoffnung, Haarausfall und sonniger Familienausflug inklusive – und versteht nicht, warum.

Menschen im Labor

Malte C. Lachmann lässt acht Schauspieler*innen in einer laborähnlichen, weiß lackierten Szenerie spielen und sie in monochromen Kostümen (Bühne und Kostüme: Ramona Rauchbach) auftreten. Da steht etwa Pink für die erfolgreiche Karrierelady, Jeansblau für den berufsjugendlichen Rentner, Mintgrün für den Arzt ohne Verständnis und mit Sparmaßnahmen im Nacken. Lachmann stilisiert und stereotypisiert. Genau und absichtsvoll. Und so wirken die kurzen, kühl gebauten Szenen meist eher wie analytische Spielanordnungen oder Stellvertreterszenen; weit entfernt vom psychologischen Kammerspiel.

Diese Distanz lässt feinen, karikierenden Witz zu und ironische Persiflage. In einem zudem tatsächlich kühlen Raum – der Abend wird im Foyer des "Center of Brain, Behavior and Matabolism", einer interdisziplinären Einrichtung der Universität zu Lübeck aufgeführt – werden in einer Art Laborsituation medizinische, ethische und moralische Fragen verhandelt. Tatsächlich ein gelungenes Setting. Und auch ein gutes Ensemble.

Ums Leben brüllen

Nur bleiben da zu viele Unklarheiten. Etwa dann, wenn es ehrlich emotional werden soll. Wenn das psychologischen Kammerspiel dann doch aus Versehen über die weiße Lackfolie stolpert. Wenn der Arzt hektisch zur Giftspritze greift, wenn Lucy brüllend ihren Lebenswillen verteidigt. Oder wenn Küsperts – utopischer? dystopischer? –Text in die Sinnfrage abdriftet und den Tod selbst zu Lucy sprechen lässt. Dann biegen Text und mit ihm auch die Inszenierung in eine wahlweise aktionistische oder melodramatische Richtung ab. Plötzlich polemisch, psychologisch, plötzlich pseudo-tröstlich. Warum?

 

sterben helfen
von Konstantin Küspert
Inszenierung: Malte C. Lachmann, Bühne & Kostüme: Ramona Rauchbach, Dramaturgie: Oliver Held.
Mit: Sonja Cariaso, Rachel Behringer, Susanne Höhne, Robert Brandt, Jan Byl, Michael Fuchs, Vincenz Türpe, Johannes Merz.
Premiere am 30. März 2023
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.theaterluebeck.de

Kritikenrundschau

"Sterben helfen" rücke einem Phänomen zu Leibe, schreibt Rezensentin Karin Lubowski im Flensburger Tageblatt (1.4.2023): "Obwohl der Tod das einzige Gewisse ist, verdrängen wir ihn, obwohl Sterben das letzte Ende vom Leben ist, lagern wir es aus. Die Grenzen zwischen Wohl und Wehe sind fließend: Was kann Medizin, was darf sie? Was wollen wir selbst?" Die "monochrom gekleidete Darsteller" zeigten hier ihr "fantastisches Spiel". Regisseur Malte C. Lachmann inszeniere "klar und schnörkellos". Das "starke Stück" treffe "direkt in Herz und Hirn", resümiert die Kritikerin.

Am Ende habe der Abend, so verstörend er sei, eine "tröstliche, vielleicht sogar christliche Botschaft", findet Kritiker Hanno Kabel in den Lübecker Nachrichten (1.4.2023): "'Þrúðr', der Name von Lucys Frau, leitet sich von dem altnordischen Wort für "Kraft" ab. Rachel Behringer als Þrúðr sei das "Kraftzentrum im Hintergrund, und ihre Kraft ist die Liebe". Der Rezensent schließt seine Besprechung mit der Beobachtung: "Es vergehen einige Augenblicke der Stille, bevor sich der erste Applaus regt. Danach ist er umso größer."

 

 

 

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