Freaks wie wir

9. Oktober 2022. Generation-Z schlägt zurück – und wie! Eine Musical-Inszenierung von Sibylle Bergs Roman "GRM. Brainfuck" zeigt Regisseur Dennis Duszczak mit einem jungen Ensemble am Theater Dortmund. Dessen Intendantin Julia Wissert hatte leuchtende Augen nach der Vorstellung. Und nicht nur sie war begeistert. 

Von Karin Yeşilada

"GRM. Brainfuck" in der Regie von Dennis Duszczak am Schauspiel Dortmund © Birgit Hupfeld

9. Oktober 2022. Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck", die Geschichte der vier tragischen Helden in einer neoliberal verseuchten, dystopischen Moderne, ist als Roman bereits eine Tour de Force. Bei der radikalen Kürzung des Textes von über 600 Seiten auf die 46-seitige Bühnenfassung ging einiges von der unfassbaren Grausamkeit verloren, die den vier Kindern widerfährt, so dass ihr handlungsbestimmender Rachefeldzug im Stück nicht ganz motiviert scheint. Macht aber eigentlich nichts, denn die Revolution gegen ein korrumpiertes, perverses und krankes Gesellschaftssystem muss nicht erst erklärt werden.

Generation Z inszeniert die Geschichte der Generation Z 

Bereits in einem einige Wochen zuvor geposteten Werbetext zum Stück hatte Regisseur Dennis Duszczak, selbst zur Generation Z gehörend, seine Solidarität mit den von der Mehrheits- und Klassengesellschaft Marginalisierten ausgedrückt. Das könnten auch wir sein, schrieb er. Und selbst das noch immer affluente (und in Dortmund noch buntere) Theaterpublikum weiß ja neuerdings um die Abgründe, die sich in der aktuellen Energie- und Weltenkrise unversehens auftun können. Immerhin, noch ist der große Theatersaal gut geheizt. Und wäre er es nicht, so hätte es die zweistündige Show allemal besorgt: So viel versammelte Power auf der Bühne – WTF!

Da ist alles stimmig. Das beginnt schon bei der Bühnengestaltung, die das triste englische Rochdale-Grau ins Dortmunder Ruhrpott-Grau übersetzt – über allem thront das Dortmunder U – und mit witzigen Einfällen aufwartet: Das aus der Tiefe des Bühnenbodens heraufwachsende "Holyrood-House" fungiert als Video-betriebener Peep-Show-Kasten, die coole Band (Malte Viebahn, Christoph Helm, Emilia Golos), musiziert unter einem der beiden großen Scheinwerfer-Gerüste, die auf der Drehbühne montiert um das Geschehen kreisen, und in der London-Szene lächelt plötzlich Prinz, nee, King Charles monarchisch mit Burgerking-Krone vom Tapet. Genial!

GRM1 BirgitHupfeldSwingende Revolution gegen das System: Nina Karimy, Lola Fuchs, Linus Ebner, Christopher Heisler, Sarah Quarshie, Mervan Ürkmez © Birgit Hupfeld

Passend in diese Landschaft sind die Darsteller:innen in diversen Grautönen gestylt, mit geilen Frisuren (von Uhura bis Judy Garland). Sie nutzen den sparsam ausgestatteten, durch Licht und Ton gut ausgestalteten Bühnenraum in immer neuen Bewegungsabläufen – und die wiederum sind oho! Wie die sechs Darsteller:innen da immer wieder krabbeln, tanzen, wippen, schreiten, nach vorne preschen oder sich, die oder den Nächsten vorlassend, wegducken, wie sie sich in der Rede abwechseln, wie sie als jazzige Hintergrundsänger (ach, sch… auf's Gendern) mitswingen oder auch (wie die beeindruckende Lola Fuchs) solistisch singen, das ist alles ganz hervorragend. Und das soll betont sein, denn immerhin sind sie ein ziemlich junges Ensemble, das die zwei Stunden ganz ohne tragende Altstar-Unterstützung durchdonnert.

Wie sie alle brillieren

Und da gilt es wirklich auch jede und jeden einzelnen zu loben: Sarah Yawa Quarshie, die an Format gewonnen hat, Christopher Heisler, der seiner Peter-Figur sensible Kante einhaucht, Nina Karimy als kraftvolles Energiebündel und vor allem der vielseitige Mervan Ürkmez, der sowohl tragisch als auch komisch brilliert. Wie sie überhaupt alle brillieren. Sie singen und swingen, sind wunderbar witzig (allein wie sie die hysterische Londoner Gesellschaft mimen) – und das, weil ihnen die Regie großen Raum dazu eröffnet. Man spürt den langen Weg, den diese Inszenierung zurückgelegt hat, an der großen Energie, die sich da auf der Bühne jetzt entfaltet.

Die Todesliste wird konsequent abgearbeitet

Und Bergs Dystopie? Bahnt sich durch den swingenden Groove, der immer dann stoppt, wenn es ans Eingemachte geht, wenn das Trauma anklingt. Die von den rächenden Kindern erstellte Todesliste wird konsequent abgearbeitet, und, nun ja, dass der amtierende Präsident, Thomes Vater – sadistisch-irre gespielt von Linus Ebner – gestürzt wird, macht Spaß, weil inzwischen Boris Johnson abgetreten ist. Bergs Visionen von der digitalen Revolte, die vom Präsidentensohn angezettelt wird und zur totalen Überwachung à la Orwell führt, strengen eigentlich eher an, und in der Länge des Abends macht sich im Publikum etwas Überforderung breit – Brainfuck eben.

Aber wir müssen gar nicht alles verstehen, Digitalität und Diktatur gehen Hand in Hand, soviel ist klar, und wenn sich die rauschende Wahlparty in ohrenbetäubendem Getöse entlädt (mit ordentlich Bühnenmusical-Spektakel, Sting-Song und Konfetti-Regen), wird klar: Macht ist geil. Dann aber folgt auch schon der dramatische Niedergang der politischen Elite, und am Ende wird der Sohn den abgehalfterten Vater töten, ganz wie in der antiken Tragödie. Da ist dann wieder mal urplötzliche Stille auf der Bühne, und die beiden Schauspieler können sie mit klassischem Drama füllen.

GRM3 BirgitHupfeldDystopie als Musical, das rockt: Malte Viebahn (Bass, Synthie), Christoph Helm (Schlagzeug), Emilia Golos (Klavier, Synthie) © Birgit Hupfeld

Harte Wechsel sind das bisweilen, aber das rockt. Womit auch die sehr ansprechende musikalische Gestaltung (Lutz Spira und Künstler:innen) gemeint ist, die das Stück vorwiegend jazzig, aber sehr abwechslungsreich (von Grime bis Schubert) energetisiert. Und nein, die Szenen sind nicht zu lang, auch nicht die umwerfende Fick-den-Präsidenten-Szene (Akt III, Szene 1), die hoffentlich jemand demnächst noch heimlich abfilmt, damit sie viral gehen kann: Was Ebner und Karimy da an Porno-Persiflage abliefern, gerahmt von mindestens ebenso sehenswerten Randdarbietungen der vier anderen, ist romangetreu widerlich, aber auch einfach nur zum Schreien – was auch einige im Publikum, das mehrfach Szenenapplaus spendet, tun (allen Trigger-Warnungen zum Trotz). Überhaupt ist ziemlich lebendige Stimmung im Saal – Theater at its best.

Nur damit hier auch gemotzt sei: Der Sound ist streckenweise zu gewaltig, dann kommen die Schauspieler:innen trotz Mikro nicht dagegen an. Und Bergs Dystopie geht, nun ja, bisweilen unter. Was soll's: Diese Inszenierung ist abwechslungsreich, hat Tiefgang, sie ist anstrengend und überfordernd (na, aber der Roman erst!), sie ist immer irre komisch, bisweilen völlig durchgeknallt, und ganz, ganz große Unterhaltung. Das haben Dennis Duszczak und das Ensemble echt gut hingekriegt. WTF.

 

GRM. Brainfuck
Das sogenannte Musical
Bühnenfassung von Sibylle Berg nach ihrem gleichnamigen Roman
Regie: Dennis Duszczak, Dramaturgie: Hanna Saar, Bühne: Thilo Ullrich, Kostüme: Frederike Marsha Coors, Musik: Lutz Spira, Musiker:innen: Malte Viebahn, Christoph Helm, Emilia Golos, Video: Daniela Sülwold, Licht: Markus Fuchs, Ton: Christoph Waßenberg, Gertfried Lammersdorf.
Mit: Nina Karimy, Lola Fuchs, Sarah Yawa Quarshie, Christopher Heisler, Linus Ebner, Mervan Ürkmez.
Premiere am 8. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterdo.de

Kritikenrundschau

"Für ein Musical wird in diesen zwei Stunden wenig gesungen, auch wenn die drei Musiker einen guten Job machen", schreibt Bettina Jäger in den Ruhr Nachrichten (9.10.2022). Doch Sibylle Bergs Text sei "klug und geschliffen" und "beinhart, zynisch, böse". Der "Schock über die Apokalypse" sickere in Dennis Duszczaks "tiefgründige und sympathische" Inszenierung "nur langsam" ein, komme aber durch das "hervorragende, sehr harmonische" Ensemble vor allem in der zweiten Hälfte in Gang. Insgesamt halte die Spannung zwar "in Grenzen", aber als "gelungen" sei diese Premiere dennoch zu bezeichnen, so die Kritikerin.

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