In der Monster-Maschinerie

von Kerstin Edinger

Remscheid, 9. April 2010. Der Alptraum beginnt mit dem Erwachen. Josef K. wird ohne Nennung von Gründen verhaftet. Zwei monsterartige Wächter erscheinen, schleichen wie Raubtiere mit weit aufgerissenen Mäulern um ihn herum. Für ihre Inszenierung von Kafkas "Prozess", die als Produktion der Wuppertaler Bühnen in Remscheid ihre Premiere feierte, haben Sybille Fabian und Bühnenbildner Herbert Neubecker, der auch für die Bühnenfassung des Romans verantwortlich ist, die komplette Szenerie in die Farben Schwarz und Weiß getaucht.

Die steil ansteigende Bühne, die ausufernden Kostüme, selbst die Gesichter der Darsteller –  es gibt nur diese beiden Farben, keine Differenzierungen, genauso wie es für K. ab jetzt nichts anderes als schuldig oder unschuldig geben wird. K. begegnet bei seiner Suche nach Unschuld einem grotesken Kabinett schwarz gekleideter absonderlicher Figuren im Gothic-Stil.

Josef K. weiß nicht, wessen er beschuldigt wird. Verzweifelt sucht er nach einer Antwort. "Die Hauptfrage ist doch: Durch wen bin ich angeklagt? Welche Behörde führt das Verfahren?" Die beiden Wächter können ihm keine Antwort geben. Sie sind nur Teil einer großen Maschinerie, kleine Rädchen, die zu funktionieren haben. "Wir haben mit Ihrer Sache nichts weiter zu tun, als dass wir zehn Stunden bei Ihnen Wache stehen und dafür bezahlt werden."

Schaurig-schöner Bilderreigen

Sybille Fabians Stärke, selbst vom Ballett und Puppenspiel kommend, liegt in der Erzeugung fantasievoller, kraftvoller Bilder. So zum Beispiel, wenn die schwarzen Gehilfen der Gerichtsmaschinerie die Bühne in rechten Winkeln abschreiten. K. (solide gespielt von Gregor Henze) sitzt währenddessen am Boden und hämmert verzweifelt auf seiner Schreibmaschine herum. Oder der Auftritt des Untersuchungsrichters mit verzerrter verlangsamter Stimme inmitten seiner Angestellten. Tieren ähnelnd erscheinen sie im Zeitlupentempo auf der Bühne. Das kunstvoll arrangierte Schwarz-Weiß wird durch die dicken roten Gesetzesbücher in ihren Händen aufgebrochen.

Fabian und Neubecker gelingt mit ihrer Bearbeitung zwar eine Verdichtung von Kafkas Roman, doch die Figuren bleiben scherenschnittartig und eindimensional. Josef K. sucht verschiedene Personen auf, von denen er sich eine Erklärung erhofft. Jeden kennzeichnet ein äußerlicher Tick oder eine absonderliche Macke, Fräulein Bürstner etwa, die ständig ihre langen Haare zurückwirft, oder Frau Grubach im Reifrock mit weit aufgerissenem Mund – doch eigentlich sind die Figuren samt ihrer aufgesetzten Attitüde austauschbar.

Die Bewegungen des Ensembles werden präzise und exakt ausgeführt, oft aber führt der Bilderreigen zu nichts anderem als einem schaurig-schönen Anblick. Die ästhetischen Bilder dieses Horror-Kabinetts eines nicht enden wollenden Alptraumes können die Spannung über zwei Stunden nicht halten. K. umgeben von seelenlosen Monstern. Schon zu Beginn macht der Zuschauer diese Feststellung und fühlt sich bis zum Ende bestätigt.

K. wird vom Gesetz verschluckt

Je mehr K. nachforscht, umso mehr erkennt er die Unmöglichkeit seiner Unschuld und die Aussichtslosigkeit seines Aufbegehrens. Die beiden Wächter erscheinen wieder. K. hatte sich beim Untersuchungsrichter über sie beschwert. Sie werden daraufhin erschossen. K. hat sich nun doch schuldig gemacht. Dann Glockengeläut. Der Geistliche erscheint und erzählt K. eine gleichnishafte Geschichte.

Endlich verlässt sich Sybille Fabian auf den Text, und damit gelingt es ihr auch, die Spannung zu steigern. In dem Gleichnis (das auch als eigenständige Parabel unter dem Titel "Vor dem Gesetz" erschien) geht es um einen Türhüter, der das Gesetz bewacht. Ein Mann, der Einlass begehrt, wird von ihm immer wieder vertröstet, bis er stirbt. Auch K. vergeudet sein Leben damit, seine Unschuld beweisen zu wollen. Eine überdimensionierte Thorarolle, für den Juden Franz Kafka waren Thora und Gesetz gleichbedeutend, senkt sich zwischen zwei Säulen herab. An das Gleichnis anlehnend, öffnet sich das Thora-Tor. K. tritt ein: Bei Fabian wird K. nicht erstochen "wie ein Hund", sondern vom Gesetz verschluckt und somit Teil der Monster-Maschinerie. Assimilation statt Individualität.

 

Der Prozess
nach dem Roman von Franz Kafka
Bühnenfassung: Herbert Neubecker, Idee: Sybille Fabian
Inszenierung: Sybille Fabian, Bühne: Herbert Neubecker, Kostüme: Michael Sieberrock-Serafimowitsch, Sybille Fabian, Dramaturgie: Sven Kleine.
Mit: Gregor Henze, Sophie Basse, Juliane Pempelfort, Anne-Catherine Studer, Thomas Braus, Andreas Möckel, Daniel Breitfelder, Lutz Wessel, Andreas Ramstein.

www.wuppertaler-buehnen.de

 

Mit seiner Münchner Inszenierung von Kafkas Der Prozess wurde Andreas Kriegenburg Wuppertaler Bühnen 2009 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Von den besprachen wir zuletzt König Lear in der Regie von Marcus Lobbes und Felicia Zellers Ich Tasche.


Kritikenrundschau

"Wie kann man diesen unauslotbaren Text auf der Bühne in Bilder und Handlung übersetzen, ohne ihn zugleich auf eine der vielen Deutungsmöglichkeiten festzulegen und damit zu verstümmeln?" fragt sich Anne-Kathrin Reif in der Westdeutschen Zeitung (12.4.2010). Dass Sybille Fabian und Herbert Neubecker in Inszenierung von Kafkas Der Prozess für die Wuppertaler Bühnen "genau dies gelingt, ist schlichtweg ein Kunststück." "Dass die Regisseurin Sybille Fabian ursprünglich vom Tanz kommt", sei hier "ein Glücksfall: Sie kreiert in kurzen Zwischenszenen zu hämmernd geräuschhafter Musik Atmosphäre allein über Bewegung. Sie lässt ihre Figuren wie in Zeitlupe schreiten, kriechen, stolzieren, buckeln, wie es ihrem Charakter entspricht – großartig umgesetzt vom Ensemble." Dass Josef K.s Los "auch unser eigenes sein könnte, merken wir erst an der Intensität, mit der sich die Bilder dieser Inszenierung ins Gedächtnis bohren."

 

Kommentar schreiben