Hamlet - Anhaltisches Theater Dessau
Zeit der Geister
26. März 2022. Philipp Preuss zeigt mit Hamlet eine Welt ohne Zukunft, der nur noch Wiederholung bleibt. Sein oder Nichtsein, Schicksal, Macht: Es entsteht ein Spiel, in dessen Raum Sprache vergeblich nach Resonanz sucht.
Von Iven Yorick Fenker

26. März 2022. Zwei Hamlets in silber-schimmernd schwarzem Samt sitzen an einer Tafel, die mit einem weißen Tischtuch bedeckt ist und sprechen zueinander, vor sich hin und schauen in die Leere des Saales, der sich zu füllen beginnt. "Hat es schon begonnen?" fragt, in der Tür stehend, ein:e Zuschauer:in. Das wird sich noch offenbaren. Noch ist der hintere Bühnenraum verdeckt von dem weißen Stoff, in dem die Tafel endet. Was schon passiert ist: Hamlet, der Alte, ist tot und die Hamlets damit vaterlos.
Sprache auf der Suche
Hamlet, Niklas Herzberg, und Hamlet, Felix Axel Preißler, schauen nicht hin. Sie wissen, was ist und was nicht: Sein oder nicht, schweres Schicksal, der Rest ist ... Ihre Sprache kreist in Fetzen durch den Raum, auf der Suche nach Resonanz. Da ist nichts. Sie haben nur sich. Dahinter, hinten, hinter dem Stoff wird gefeiert. Eine Live-Kamera projiziert, was schon länger im Gange ist: Ihre Mutter Gertrud und ihr Onkel Claudius feiern ihre Hochzeit. Die Kostüme von Eva Karobath sind paillettenbestickte schwarze Festgewänder, die im Licht funkeln. Auf dem Tisch liegt eine Leiche. Sie wird zum Schmaus.
Sebastian Graf, Roman Weltzien, Stephan Korves, Cara-Maria Nagler und Boris Malré an und auf der Tafel, zwischen inhaltsleerer Zukunft und menschenleeren Puppen © Claudia Heysel
An der Tafel sitzen seltsam regungslose Gäste. Es sind lebensgroße Puppen, Abbildungen der Spieler:innen. Dann erscheint Hamlet, der Geist des toten Alten, und nun weiß der Sohn Bescheid: Das war Brudermord im Staate Dänemark. Und Hamlet sucht keine Resonanz mehr, nur noch Rache.
Müde Männermacht
Stephan Korves spielt den neuen König Dänemarks einnehmend benommen. Am anderen Tafelende wirkt er seiner Macht bereits müde, obwohl der Schampus noch kreist. Boris Malré ist als Polonius stets alert und aufmerksam. Sein Sohn Laertes, gespielt von Roman Weltzien, und auch später Rosenkranz und Güldenstern (Sebastian Graf und Roman Weltzien) haben Männer am Hof und wollen Macht. Hamlet will Rache. Die ausgestellten Machtgesten werden sich erschöpfen und leer werden mit der Zeit.
Hamlet gespielt von Felix Axel Preißler und Niklas Herzberg als Hamlet © Claudia Heysel
Es ist diese Zeit, in der es anmaßend wirkt, wenn Claudius' durch den Sound verstärkte Tritte auf dem Tisch wie Detonationen klingen, während die Kamera zeigt, wie die anderen darunter kauern. Und es ist diese Zeit, in der immer Krieg war und in die hinein Claudius sagt: "Wahnsinn darf man bei den Mächtigen nicht unbeobachtet lassen."
Dopplung und Dichtung
Cara-Maria Nagler schreitet, kamerabegleitet, im weißen Kleid über den Tafelsteg und durchbricht die textile Wand. Der Stoff wird hinaufgefahren, der Raum größer – ab da wird er sich stetig verändern. So wie sie. Als Gertrud serviert sie ihren Söhnen Süßes, die schlingend schon wieder "schlafen, schlafen ..." murmeln. Ein wenig später verwandelt sich Nagler im Close-Up in Ophelia. Diese Doppelbesetzung ist eine Setzung von Philipp Preuss, die einerseits der Dramaturgie des Abends von Alexander Kohlmann und seiner verfallenden Verdichtung folgt: Die Spieler:innen spielen verlangsamt, dann wieder schnell, wiederholen Handlungen bis ins Absurde. Sie stellen ihr Spiel aus und machen Abläufe größer. So rennt Ophelia immer wieder gegen den schwarzen Vorhang, der heruntergelassen wird auf ihrem Weg zurück und damit keine Ausweichmöglichkeit auf der schmalen Tischplatte gibt, als immer wieder gegen die Wand zu rennen. Anderseits reduzieren die Wechsel von Ophelia zu Gertrud, von Folgsamkeit der liebenden Geliebten zu Folgsamkeit der Ehefrau, die Handlungspielräume beider Figuren in den Machtspielen der Männer. Sie bricht heraus, eignet sich die Sprache Hamlets an und konfrontiert das Publikum: Was hättet ihr getan? Dann ist sie tot. Sie wird auferstehen.
Hauntology
Dauerhaft aufspielen können die dänischen Prinzen. Sie bewegen sich frei in den Räumen, die durch die ausgeklügelten Verwandlungen der grandiosen Bühne von Ramallah Sara Aubrecht entstehen. Es fallen samtene, durchsichtige, spiegelnde oder projizierende Vorhänge. Hamlet benötigt aber keine Begrenzung, die beiden begrenzen sich selbst in ihren selbstversessenen Schleifen, die sie immer wieder bis in die depressive Apathie drehen, in die Wiederholung der Wiederholung: Sein oder... Sein oder... Es gibt nur noch die Vergangenheit. Es gibt keine Zukunft mehr. Es gibt kein Jetzt. Die Figuren können nicht weiter, weil es ein Weiter nicht mehr gibt.
Deswegen spielen sie weiter, die Vorstellung beginnt von vorne, auch wenn das Publikum anfängt den Saal zu verlassen und jemand sagt: "Komm, das haben wir schon gesehen."
Hamlet
von William Shakespeare
Fassung von Philipp Preuss unter Verwendung der Übersetzung von Marius von Mayenburg
Regie: Philipp Preuss, Bühne: Ramallah Sara Aubrecht, Kostüme: Eva Karobath, Video: Konny Keller, Musik: Kornelius Heidebrecht, Dramaturgie: Alexander Kohlmann.
Mit: Sebastian Graf, Niklas Herzberg, Stephan Korves, Boris Malré, Cara-Maria Nagler, Felix Axel Preißler, Roman Weltzien.
Premiere am 25. März 2022
Dauer: ca. 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause
anhaltisches-theater.de
Kritikenrundschau
"Regisseur Philipp Preuss setzt auf die Erkennbarkeit der Geschichte. Bleibt damit dem Werk treu. Lässt die Handlung aber auf und um den Tisch herum spielen", meint Stefan Petraschewsky im MDR Kultur (26.3.2022). Das erinnere ebenso an den runden Tisch aus Christoph Heins Wendestück "Ritter der Tafelrunde" wie die Live-Videobilder an "Staatsfernsehen" oder der sich mit dem Handy filmende König an den ukrainischen Präsidenten Selenskyj – und: "Je länger der Abend, desto mehr wirken abstrakte Sätze ganz konkret auf die Situation in Russland." Zu bewundern sei "ein wirkliches großes Theaterkunstwerk" und ein "Kandidat für das Berliner Theatertreffen 2023".
Für Irritationen und einen kleinen Skandal sorge dieser Abend, so Andreas Montag in der Mitteldeutschen Zeitung (28.3.2022). Neu montiert und aufgemischt werde hier zeitschleifen-haft "Endzeitstimmung vorgeführt, die es immer schon gab, die bleibt und die andauern wird". Manchmal wirke Zeitgeschichte, so ernst sie ist, auch grotesk, "auch auf derlei Gedanken kann man kommen. "Aber dann zerfasert die Inszenierung schon wieder."
Von einem "künstlerischen Coup" (der nicht der erste sei unter dem seit 2020 in Dessau amtierenden Schauspieldirektor Alexander Kohlmann) spricht Torben Ibs in der FAZ (30.3.22). Regisseur Philipp Preuss verwandele die Geschichte um den dänischen Prinzen Hamlet in ein "Requiem der Kommunikation". Wenn die beiden Hamlets Niklas Herzberg und Felix Axel Preißler redeten, dann täten sie das vor allem mit sich selbst; alle Gespräche mit der Außenwelt hätten den Charakter von Verhören. "Zugleich löst Preuss", so der Rezensent weiter, "Sprecherrollen und Dramaturgie konsequent auf und etabliert ein Theater der Zerdehnung."
"Philipp Preuß stellt fleißig um und fügt Szenen neu zusammen", berichtet Michael Laages im Deutschlandfunk Kultur (30.3.22). Man bekomme Hamlet – das Stück wie die Figur – in Dessau aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen, aber nicht immer würde deutlich, warum. "Das bleibt das zentrale Problem dieser unerhört ambitiösen Hamlet-Erkundung: dass sie sich ebenso unerhört schwer tut mit den eigenen Motiven." Hamlet in Dessau sei „überwältigend anstrengend – für alle“, so der Kritiker weiter. „Ein derart herausforderndes Spektakel kann sich ein Theater auch in der ersten Liga nur eher selten erlauben", urteilt er. "Dessau wagt also viel.“
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Die Verdopplung des Hamlet ist die zweite zentrale Idee dieser Inszenierung: Niklas Herzberg und Felix Axel Preißler teilen sich die Titelrolle. Die ganze Tragödie, die sich an einer riesigen, an Putins Verhandlungstisch erinnernden und durch Spiegel weit in den Bühnenrückraum verlängerten Tafel abspielt, wird zum Selbstgespräch: Hamlet ist nach der Lesart von Regisseur Preuss und seinem Dramaturgen Alexander Kohlmann in einem Verzweiflungs-Limbo und selbstzerstörerischen Gedankenschleifen gefangen.
Philologisch ist dieser Ansatz interessant, in der theatralen Umsetzung wird er zum quälenden Graubrot aus Redundanzen und Loops, die vom verbliebenen Publikum freundlichen Applaus ernteten, während der Rest draußen schon die letzten Sonnenstrahlen dieses Pfingsttags genoss statt sich den Depressionsschleifen des Dänen-Prinzen auszusetzen.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2023/05/28/hamlet-dessau-theater-kritik/
Umso mehr frage ich mich, ob #6 den gestrigen Abend überhaupt erlebt hat bzw. wie er/sie ihn so anders erleben konnte. Hat da etwa jemand nur die Kritiken gelesen ohne sich selbst ein Bild zu machen? Am Ende sei der Sall genervt und leer? Also, ich war nicht genervt, ich war begeistert. Und leer - hm, ein großer Teil des Publikums, das den Zuschauerraum während des Loops verlässt, kommt zum (begeisterten) Applaus zurück...
Umso unfassbarer, dass das Anhaltische Theater diese Inszenierung bereits vom Spielplan genommen hat. Womit man wieder bei der Provinzdebatte ist. Will die Provinz gar nicht mehr sein als Provinz? „Der Wahnsinn von Mächtigen darf nicht unbeobachtet bleiben.“
In der Deutschlandfunk-Kritik heißt es richtig, die Inszenierung tue sich schwer mit den eigenen Motiven. Ja, es gibt faszinierende Passagen in der Aufführung, aber auch viel Rätselraten nach dem Warum von szenischen Einfällen (englische Textpassagen, verwirrender Rollentausch, verdrehte Zuordnungen: Ophelia verstößt Hamlet und schickt ihn ins Kloster, ein kurz mal drehender Teil des riesigen Tisches). Das kann nicht mit der Erklärung abgetan werden, Kunst müsse nicht immer erklärt werden.
Wer eine Inszenierung macht mit einer so aufdringlichen Botschaft, alles wiederhole sich immer, und dafür ein Viertel des Abends als modischen "Loop" noch einmal spielen lässt, der will sich ja offenbar dem Publilum verständlich machen. Das aber besteht nicht überwiegend aus Theaterleuten und Berufstheatergängern wie Juroren und Kritikern, die ihren 10. Hamlet irgendwie neu gewürzt erleben wollen (Juror im Publikumsgespräch: so hat man Hamlet noch nie gesehen), sondern aus dem kulturinteressierten sog. Normalpublikum, für das die ganze Chose eigentlich veranstaltet wird und das erleben will, warum es den Abend im Theater verbracht hat.
Dieses Publikum ist weder provinziell noch dumm, weshalb so viele den Saal verlassen haben, weil sie das mit dem "Loop" nach fünf Minuten begriffen hatten und dann auf 25 weitere Minuten Nachhilfeunterricht verzichtet haben.
Ich bin da geblieben, weil ich hören wollte, was im anschließenden Publikumsgespräch gesagt wurde. Das war dann looplos interessant.
Ein Abend zum Vergessen, der Rest ist...
(Der Kommentar wurde gekürzt, da Teile daraus nicht unserem Kommentarkodex entsprechen. Diesen finden Sie hier: nachtkritik.de/impressum-kontakt)
Dieser „Hamlet“ zeigt, dass man einen Klassiker nah am Text und trotzdem verstörend ungewöhnlich auf die Bühne bringen kann. Ein großartiges Beispiel, wie sich Weltbezug und Gegenwärtigkeit in der Kunst herstellen. "
www.welt.de/kultur/article245604338/Theatertreffen-in-Berlin-Hamlet-ist-hier-eigentlich-unerwuenscht.html