ViaThea - die 14. Auflage des Internationalen Straßentheaters in Görlitz endet in Rekordlaune
Wasserbomben für die Gutmenschen
von Andreas Herrmann
Görlitz, 3. August 2008. Eine ganze Altstadt im Theaterrausch: Am ersten Augustwochenende nimmt sich das in der Fläche größte Baudenkmal Europas – bestehend aus rund viertausend Einzelteilen, erhaben und mondän, je hälftig aufwändig saniert und gut bewohnt – traditionell mal kurz zurück und dient als pure Kulisse: für Straßenkünstler aller Art und aus aller Welt.
Zur diesjährigen 14. Auflage des internationalen Straßenfestivals "ViaThea" waren rund 100 Künstler aus neun Ländern und vier Kontinenten geladen, um sich dem Oberthema "Wasser" in vielen Variationen anzunähern. Dass so ein Thema leicht schief gehen kann, war vor zwei Jahren zu sehen: Erstmalig wurde da ein Motto gewählt: "cirque nouveau" – symbolisch für die neuzeitliche Wiederbelebung des Zirkusgedankens, denn das römisch-klassische Brot-plus-Spiele-Prinzip aus der Circus-Maximus-Ära verschwand ab 549 n. Chr., als es der Welt mit Rom reichte, für rund 1300 Jahre aus den Spielplänen –, um die Gruppen mit Affinität zu Elementen von Akrobatik, Clownerie und zirkusnahen Programmen nicht länger auszuschließen.
Nichts für Puristen
Und dann regnete es zwei der drei Abende lang in rauen Mengen, was gerade Akrobaten an Seilen, Stangen und Trapezen schlecht bekommt. So ließ man 2007 das Thema offen, um 2008 gleich ganz und gar auf Konfrontation zu gehen: "Wasser und Grenzen" – in einer bis Dezember durch eine EU-Außengrenze und nunmehr nur noch durch die Neiße getrennten Stadt, die sich schwer tut mit dem Zusammenwachsen und dem Erkennen ihrer Bedeutung, die sich aus rund 58.000 Görlitzern und 32.000 Zgorzelecern ergibt.
Doch einmal im Jahr blüht das gefühlt-doppelte Randstädtchen auf und ergibt sich dem jugendlichen Elan einer internationalen Künstlergilde. Organisiert von dem schlicht "Kulturservice" genannten Büro unter der Obhut des kommunalen Musiktheaters bringt das Festival vielsprachiges Leben in den akustisch eigenwilligen Hall der Altstadtgassen. Im Viertelstundentakt starten zwei bis vier Inszenierungen, um für eine runde halbe Stunde eine 300- bis 1000-köpfige Menschentraube zu unterhalten, die stets vibriert und sensibel reagiert. Straßentheater ist nichts für Puristen, sondern steht in dem Zwang, sofort fesseln zu müssen.
Die kleine Form der großen Subversivität
So wie es dem amerikanischen Hardcore-Komödianten Dirty Fred gelingt. Als Korporal der "Pink Berets" wappnet er mit einer interaktiven "Anti Terrorism Show" die behäbigen, undisziplinierten Europäer für den heiligen Krieg nach dem nächsten Anschlag. Das Publikum stellt die Schutztruppe ebenso wie den Osama. Der muss, schön verbärtigt, nach dem Brandanschlag auf die US-Flagge im Publikum untertauchen, worauf dieses kollateral mit Wasserbomben traktiert wird. Doch die Rache ist nass, schräg und hintersinnig. Zum Abschluss kitzelt er die niederen Instinkte der Gutmenschen heraus: Bewehrt mit Schutzbrille, Ohren- und Sackschutz stellt er sich den 80 Wasserbomben, die das Publikum unter großem Gejohle auf ihn wirft. Nur ein nasser Amerikaner ist ein guter Amerikaner.
Ein anderer Höhepunkt der kleinen Form mit großer Subversivität: Das Theater Irrwisch mit "Wegenstreits Gäste" – ein sehr mobiles Stelzentrio erobert den Untermarkt. Da wird eine junge Dame auf dem Krankenwagen abgelegt, alle offenen Fenster im ersten Stock erobert, die erreichbaren Sachen entwendet und getauscht – auch ein Staubsauger landet auf dem Wagendach. Eine kurze Kissenschlacht mit den Gästen am Fenster im "Hotel Börse", alles entschlossen und total ernst vorgetragen, alles gegen den Bürger- und Gemeinsinn, alles sehr witzig. Was dabei vorher abgesprochen war, bleibt geheim, freundliche Besucher räumen wieder alles genau dahin, wo es herkam, die Dame schreit nach ihrem Freund, der sie genüsslich fotografiert, der Krankenwagenfahrer hievt einen kleinen Jungen aufs Auto, um den Staubsauger herunterzugeben. Währenddessen geben die Künstler entspannt Fanfotos statt Autogramme.
Grandios in der Publikumsresonanz punktete auch die am weitesten angereisten Truppe: Ponto de Partida aus Minas Gerais im tiefsten Brasilien ist im Laufe der Entwicklung zum Repertoiretheater mit 21 Profis ausgewachsen und bot mit "Travessia" ein schlichtes, mit einfachsten Mitteln inszeniertes Musical, welches – nur begleitet von Percussion und Gitarre – dennoch funktionierte. Sie füllten zweimal das Theaterhaus komplett, welches dafür leider nur die Sitzplätze freigab. 20-minütige Ovationen und Zugaben, von einem Begleiter der Gruppe von der Bühne aus genauso begeistert gleichzeitig gefilmt und geknipst, endeten in euphorischen Liebeserklärungen an die Stadt und die Bürger, welches die berührte Dolmetscherin zu übersetzen hatte.
Entscheidung fällig: Kunstevent oder Volksfest
Von mehr als 60.000 Besuchern – bei rund 70 Einzelauftritten an 16 Spielorten – spricht Projektleiterin Christiane Hoffmann am Tag danach, verweist aber auf die Schwierigkeiten des Zählens. Denn die 6.000 verkauften Programmhefte, die für einsfünfzig und dreisprachig einzig und allein den ausgeklügelten Programmablauf verraten, sind schnell vergriffen, der Eintritt ist ansonsten frei, der Rest also Schätzung von fixem Wandelpublikum.
Wer die vergangenen Festivals erlebt hat, weiß, was die Organisatoren meinen: Man wollte bisher nicht genauer zählen. Denn der Jahrgang 2008 war nicht besser oder besser besucht als der von 2007, wo man von 30.000 sprach. Übrigens ebenso viele wie beim verregneten zwölften Jahrgang. Dennoch steht der Rekord nun in den Annalen.
So giert das Festival auf eine Entscheidung: Groß und professionell oder klein und volksnah. Charme hat beides, der bisherige Spagat ist nicht haltbar. Sympathische Ideen wie der Prolog donnerstags als "Picknick im Stadtpark" ersticken an Zuschauermassen und im Volksfestgemurmel. Plätze wie der Marienplatz gehören akustisch beruhigt, wenn man sich Klangfetischisten wie L’Éléphant Vert einlädt, wo selbst das Wasserspielrauschen stört.
Oder die Abschlussproduktion der Compagnia Teatrale Corona, die mit "Tempus Fugit" eine interessante, aber überfrachtete Version vom Albtraum eines kleinen Normalbürgers im Kampf gegen die große Zeit und deren finstere oder bunte Gestalten zeigte. Getragen von den schillernden Kostümen von Roberto Corona und der live dargebotenen Klaviermusik von Massimo Cottica waren viele technische Spielereien dramaturgisch überflüssig, auch wenn dem Feuer viel Wasser entgegengesetzt wurde. Die Inszenierung hätte vielleicht auf der Untermarktbühne des Historienspiels, welches alljährlich Anfang Juli die glorreichen düsteren Zeiten der freien Stadt unterstreicht, funktioniert. Aber auf dem Obermarkt war sie nur für die frontalen Sitzplätze richtig genießbar, die mehr als 3000 anderen Zuschauer blieben weitestgehend außen vor.
ViaThea
14. Internationales Straßentheaterfestival in Görlitz/Zgorzelec und Zawidów (31. Juli bis 3. August 2008)
Organisiert vom Kulturservice am Theater Görlitz, Projektleitung: Christiane Hoffmann.
Mit 16 Künstlern und Künstlergruppen.
www.viathea.de
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