Staliza Around - Das Respublikanski Teatr Belaruskaj Dramaturgii aus Minsk
Erzwungene Gemeinsamkeit
von Ute Grundmann
Leipzig, 6. November 2009. Eine kleine, enge Box aus Stahlrohren, darin vier Metallstühle. Als kargen Käfig hat Aljona Igruscha das Abteil einer U-Bahn auf die Bühne gebaut, in dem zwei junge Männer auf die Weiterfahrt des Zuges warten. Doch tief unter der Erde der weißrussischen Hauptstadt Minsk tut sich nichts. Der Zug bewegt sich nicht und so kommen die beiden Männer widerwillig ins Gespräch.
Das ist der Ausgangspunkt für das Stück "Staliza around" ("Hauptstadt ringsherum") des 1976 in Minsk geborenen Sergej Girgel. Mit ihm gastierte das Dramaturgische Theater der Weißrussischen Republik (Respublikanski Teatr Belaruskaj Dramaturgii) aus Minsk beim Leipziger Festival euro-scene. Unter dem Titel "Sonnenfinsternis" widmet es sich in seinem 19. Jahrgang den Ängsten und Sehnsüchten der Menschen. Und insofern war das Gastspiel aus Minsk schon richtig bei diesem vom Tanz dominierten Festival des zeitgenössischen (ost)europäischen Theaters.
Als ein Fluch das Schweigen bricht
Denn aus dem den beiden Männern durch die Situation aufgezwungenen Gespräch wird bald ein sehr persönlicher Dialog, in dem sie in ihr Leben und ihre Wünsche blicken lassen. Allerdings kommt das in Girgels Stück eher grotesk denn finster daher, und Sara Tokina hat das in ihrem Regiedebüt von 2007 zunächst sehr stimmig in Szene gesetzt. In dem engen, begrenzten Raum versuchen die jungen Männer (Maksim Panimatchenka und Dzianis Parshin, der auch an der Musik mitwirkte) erst, sich abzugrenzen. Sie setzen sich so weit es geht auseinander, kehren sich den Rücken zu, schweigen sich an. Wie das eben so ist in einer erzwungenen Gemeinsamkeit.
Dann bricht der Fluch "Mist!" das Schweigen, die beiden kommen ins Reden, streiten um die Zeitung, die der eine liest und der andere haben will, um die Langeweile zu vertreiben. Lässig-leise der eine, angespannt-aggressiv der andere, plaudern die beiden, brüllen sich auch mal an, versinken wieder in Schweigen, in Warten, dass der Zug endlich weiterfährt. Doch die U-Bahn, die tief unter der Erde von der Hauptstadt umgeben ist (daher der Titel des Stücks), bleibt unbeweglich. Und umso länger das dauert, desto persönlicher wird das Gespräch – aber da überzieht Autor Sergej Girgel dann bald den Bogen der Zufälle doch erheblich.
Denn die beiden entpuppen sich als Brüder: von den Eltern einst im Krankenhaus zurückgelassen der eine, dem anderen sind diese Eltern inzwischen weggestorben. Doch damit nicht genug – beide sind auch auf dem selben Weg zu der selben Frau, die der eine bald heiraten will und die der andere mehr als nur mal geküsst hat.
Brüllen, reden, raufen
Erscheint das noch als ein Spiel der Möglichkeiten (gibt es die Frau wirklich? Will der eine Bruder dem anderen nur nicht nachstehen?), führt Girgel die Zufallsbekanntschaft ins Absurde: Die Angebetete ist schwanger von dem, der sie verlassen hat, und nun wollen beide Männer gemeinsam gute Väter sein. Das ergibt ein unwahrscheinliches und unglaubwürdiges Happy End der Aufführung des "Dramaturgischen Theaters der Weißrussischen Republik", einer von 13 Bühnen in Minsk, die sich der Förderung junger Autoren und Regisseure des Landes verschrieben hat.
Regisseurin Sara Tokina hat das kurze Stück atmosphärisch dicht und ohne Schnörkel inszeniert. Sie lässt die beiden Protagonisten in der Enge des U-Bahns-Abteils unruhig umher tigern, ihre Reviere abstecken. Erst brüllen sie sich an, dann kommen sie sich widerwillig näher, reden und raufen, vertilgen schließlich den Champagner und die Pralinen, die für die Geliebte gedacht waren. Und sie lässt die beiden Schauspieler die Grenzen des Abteil-Käfigs überschreiten, sie klettern auf das Gestänge, treten nach draußen, finden sich aber stets in der Enge des Zuges tief unter der Erde wieder.
Aber weder die Regie noch die beiden sympathischen Schauspieler können die Längen und die Wiederholungen im nur 70 Minuten kurzen, von Ralf Siebelt simultan übersetzten, Stück überspielen – freundlicher Beifall im Kellertheater der Oper Leipzig für die Gäste aus Minsk.
Staliza around (Hauptstadt ringsherum)
von Sergej Girgel
Regie: Sara Tokina, Musik: Dzianis Parshin, Timur Kalinowski, Bühnenbild und Kostüme: Aljona Igruscha.
Mit: Maksim Panimatchenka, Dzianis Parshin
www.euro-scene.de
Mehr lesen zur Theaterszene in Belarus im nachtkritik-Archiv: im Sommer 2008 bereiste Anne Peter die seit 1991 unabhängige ehemalige Sowjetrepublik Weißrussland. In der Hauptstadt Minsk wurde 1990 das Respublikanski Teatr Belaruskaj Dramaturgii gegründet.
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wer war denn nach der pause noch da? und hat sich jemand vom ach so interessierten euro-scene-publikum ein lautes "BUH!" abringen können?
ich wär ja noch geblieben, einzig noch für das schluss-buh, hätt ich nicht 'ne pizza im ofen gehabt.
manchmal ärgert man sich ja schon, dass man keinen ziegelstein dabei hat ..
Ansonsten würde ich jedes Wort von Beitrag Nr. 5 unterschreiben. Außer, dass man befürchten muss, dass es im 20. Jahr noch mehr (Parteitags)Getöse geben wird. In dieser Hinsicht funktionieren viele Dinge in Leipzig wie vor 25 Jahren. (Zwischen 87 und sagen wir 93 war es in der Stadt etwas interessanter.)
nur wenn die fenster zu bleiben sollen, ist es wirklich schwierig mit dem lüften. und genau das so scheint mir, glaubt die spitze des festivals. "frischer wind ja, aber nur meiner und die fenster, ja, die müssen bitte hermetisch geschlossen bleiben, sonst, sonst, äh, ja sonst, na ja, da könnte ja wirklich sich was ändern. und das mit verlaub, will ich ja nun wirklich nicht" "Oh, habe ich das gesagt?" so stelle ich mir das vor. Parteigetöse. passgenauer ausdruck. ich denke, da steht ein e.V. dahinter, wer ist da denn beteiligt, wieso fällt das keinem von den mitgliedern darin auf, dass sich seit jahren nichts mehr bewegt? man hat sich die regelmäßigen besuche wirklich in den letzten jahren abgewöhnt. wie schade. also: anpacken und mitmachen. und ja, den hamlet, den fand ich auch schlecht. so wie einiges anderes, dass ich mir dann doch ansah. wie schade für leipzig. weiter schmoren im eigenen saft. scheint ja keinen der macher des festivals zu stören. zum glück wurden ja innovativ und avantgardistisch schon aus dem vokabular gestrichen. wenigstens einen funken ehre scheint man noch zu haben. ich denke, die köpfe stecken so weit in den wolken, dass man zu dünne luft atmet und sich selbst nicht mehr wahrnimmt, bzw. nicht kritisch wahrnimmt, falls man das je getan hat. kann ein ganzer verein so blind seinem vorstand folgen?