(R)EVOLUTION. Eine Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert - Neue Bühne Villach
Die Sklaven der Dinge
von Christian Rakow
Villach / Online, 5. Februar 2021. Nach Kärnten bin ich nie gekommen. Und mithin nie zur Neuen Bühne im 62.000-Seelenort Villach. Erst dieser zweite Corona-Lockdown macht es möglich, jetzt da Theater in wachsender Zahl auf Onlinepremieren ausweichen: gestreamt aus leeren Sälen, für Zugeschaltete von irgendwo. In meinem Falle aus Berlin.
Eine Studiobühne ist's, die mir der Bildschirm zeigt, und die normalerweise gut einhundertsechzig Zuschauer*innen Platz bieten würde. Der Fußboden sieht nach Dielen aus, darauf ist eine rote Spielfläche ausgelegt (Linoleum?), die sich die Spieler*innen bald mit einigen stoffbespannten Quadern und Stühlen selbst gestalten. Für Szenen im Stehen und Sitzen. "Sie sind nah dran" lautet das Motto der Neuen Bühne Villach, und es kündigt absolut verlässlich puristisches, handgemachtes Schauspiel der kleinen Form an.
Das smarte Home befiehlt
Mit "(R)EVOLUTION. Eine Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert" von Yael Ronen und Dimitrij Schaad hat sich das Villacher Ensemble um Regisseur und Intendant Michael Weger einen der herausragenden Texte des letzten Jahres vorgenommen. Ronen/Schaad – prägende Köpfe des Berliner Gorki Theaters – stehen ja eigentlich für Stückentwicklungen, die sich eng mit den Persönlichkeiten der Spieler verbinden und also schwer von fremden Ensembles wiederaufzuführen sind. In dieser fürs Hamburger Thalia entstandenen Arbeit "(R)evolution" aber handelt es sich um ein vergleichsweise konventionelles Drama.
Inspiriert von Bestsellerautor Yuval Noah Harari ("Eine kurze Geschichte der Menschheit") zeichnen Ronen/Schaad eine bitterkomische Zukunft im Jahr 2040: das smarte Home überwacht seine Bewohner rund um die Uhr, erteilt Ernährungsanweisungen, meldet Gesundheitsdaten an die Versicherer und untersagt auch schon mal das abendliche Fernsehgucken, wenn der Schlaf anschließend zu unruhig ist. Nachwuchs kann man sich im Labor gentechnisch vorfertigen lassen: Wie hätten sie's denn gern, hohe Lebenserwartung, intelligent bis zum dorthinaus und immun gegen alle Krebsformen? Kostet aber extra. Der beste Ratgeber im Alltag (und zugleich der größte Lauschangreifer) ist eine künstlich intelligente App mit dem mythischen Namen Alecto.
Morgengrauen des Homo Deus
In dieses Morgengrauen des "Homo Deus" (des aufkommenden Übermenschen) hinein platzieren Ronen/Schaad die letzten Menschen der so makelhaften Spezies Sapiens: Eltern, die über ihrem Kinderwunsch verzweifeln; ein schwules Paar, das sich zwischen Nähe und Cybersexfantasien zerreibt; eine vereinsamte Frau, die sich von Alecto ihre Zukunft durchkalkulieren lässt. Klingt bös und dunkel und ist es eigentlich auch, selbst wenn das Autorenduo reichlich Sketchwässerchen ins Orwell’sche Überwachungsszenario träufelt: "Ich glaub, ich bin trans", sagt Ricky zu seinem Freund, "ich ... fühle mich unwohl mit meinem Körper". Oh Gott, will er eine Frau werden? "Nein, nicht transsexuell. Transhuman!"
Die Villacher Aufführung wirkt hier noch einmal um einiges düsterer. Zum einen aus den Spielbedingungen heraus: In Ermangelung unmittelbarer Publikumsreaktionen fehlt der Resonanzraum für Pointen, der Humor kommt nicht zum Schwingen. Aber schon dramaturgisch hat man das Stück eher auf den heiligen Ernst hin abgeklopft. Gegenüber der Verlagsfassung erhalten die Agitationen einer "biokonservativen" Widerstandbewegung – der sogenannten "Naturalisten" – größeren Raum. Alfred Aichholzer bringt sie mit O-Tönen von Harari gespickt und einem refrainartig schließenden Appell vor: "Wir sind die Naturalisten. Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Dies ist eine Aufforderung zum Handeln!"
Wir sind das Experiment
Die Hamburger Kritik hatte Ronens Uraufführung vorgeworfen, entgegen der Stückintention (Warnung vor der KI-gesteuerten Optimierungsblindwut) selbst einem bühnenbildnerischen Technikfetischismus zu frönen. Dergleichen muss in Villach selbstredend nicht befürchtet werden. Das Schauspiel ist in der Regie von Michael Weger (der als Genetiker Dr. Frank selbst mitspielt) gedrosselt, konzentriert, ganz auf den Textvortrag abgestellt. Man trägt dystopisch grauen Schlabberlook (Kostüme: Michaela Wuggenig); das elegische Memorial von Filmmusikkomponist Michael Nyman grundiert die Stimmung. Die Aufbereitung für den Stream bleibt defensiv, wenige Kameras sorgen für Auflockerung durch Perspektivwechsel, Schnitt und Gegenschnitt, eine weitergehende Stream-Regie, die Bildkacheln ineinanderschiebt oder dergleichen Web-Design probiert, gibt es nicht.
Und dennoch gewinnt "(R)evolution" in diesen Lockdown-Tagen einiges an Suggestivkraft. "Ich will nicht, dass wir Teil eines Experiments sind", sagt René (Michael Kuglitsch) einmal zu seiner Frau Lana (Isabella Weger), als beide ihre Optionen für den Kinderwunsch durchdiskutieren. Dabei ist das Experiment ja längst angelaufen, in der Welt der Figuren, auch in unserer Welt draußen. Die Telegesellschaft zieht auf, die Algorithmen rasseln. Man hängt am Bildschirm und reicht die Daten an YouTube raus (über die der Stream eingebettet ist). Und blickt auf die Sklaven der Dinge, als einer von ihnen.
(R)EVOLUTION. Eine Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert
von Yael Ronen / Dimitrij Schaad
Regie und Raum: Michael Weger, Kostümbild: Michaela Wuggenig, Maskenbild: Michaela Haag, Technik: Gerald Samonig, Bühnenbau: Herbert Salzer, Regieassistenz: Alexandra Kuehs, Produktionsleitung: Waltraud Hintermann / Clemens Luderer, Live-Streaming: Josef Fasching, Tanja Pfleger, Herbert Salzer.
Mit: Alfred Aichholzer, Natalie Krainer, Michael Kuglitsch, Martin Mak, Isabella Weger, Michael Weger, Frankie Feutl (fehlte bei der Premiere aufgrund einer Corona-Quarantäne)
Premiere am 5. Februar 2021 online
Dauer: 2 Stunden, eine Pause
neuebuehnevillach.at
Michael Weger hält das Stück in Raum und Ausstattung in vollkommener Reduktion, schreibt Tina Perisutti im Kurier (9.2.2021), wodurch die Brisanz des Textes noch stärker zutage tritt. "In seiner Regie erlebt man Menschen von nebenan, die sich in identischer, grauer Kleidung der technischen Evolution ergeben müssen." Das Ensemble wirke geschlossen authentisch und werfe in glaubwürdiger Gestik die Fragen auf, ob es tatsächlich erstrebenswert sei, die technischen Möglichkeiten bis in den letzten Algorithmus auszureizen.
Eine "Nummernrevue mit Geschichten, die teilweise schon Realität sind oder ins Absurde überzeichnete Sketches", hat Karin Waldner-Petutschnig von der Kleinen Zeitung (7.2.2021) im Stream aus Villach erlebt. Ihr Fazit zu dem Abend: "Unterhaltsam. Doch wer mehr Nachdenken will, sollte Sibylle Berg lesen" (womit eine Empfehlung für Bergs Roman "GRM. Brainfuck" ausgesprochen ist).
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Aber trotzdem interessant und gut geschrieben.