Werther.live - Freies Digitales Theater
"Hey Diggi, alles fresh?"
von Elena Philipp
Berlin, 3. Februar 2021. Schwärmerei sei erlaubt, ausnahmsweise. Schließlich behandeln wir hier ein zentrales Werk des Sturm und Drang, Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" – "für die virtuelle Gegenwart adaptiert" von einem freien Theaterkollektiv um die (Film-)Regisseurin Cosmea Spelleken.
werther.live zum künstlerischen Medium. Werther (Johnny Hoff) ist ein Digital Native, der mit seinen Freund:innen regen Austausch pflegt. Messenger haben die Post ersetzt, statt Billets oder Briefen werden im Sekundentakt Texte und Sprachnachrichten hin und her gesandt.
Der Screen, das Wohl oder Übel dieser Zeit, wird in"hey diggi, alles fresh?“, stupst "Friederike Schillerin" ihren Kumpel Werther per WhatsApp an, "Base Frauenzimmer" schickt einen YouTube-Link, und Werthers Ex-Freundin Leonore tobt in Majuskeln: "DU BIST ES NICHT WERT". "Willi Schätzchen" alias Werthers Intimus Wilhelm stellt seine nächtlichen Eroberungen im Pariser Auslandssemester vor: die Moët-Schwestern. "ZWILLINGE DIGGER! Is mein Fezisch glaub ich", textet er an Werther, der ihm prompt antwortet: "whaaaaaat! Als ob !"
Partyhipster im Desktop-Fieber
Präzise modelliert sind die parallelen Konversationen der Youngsters, die wir als Zuschauer:innen über Werthers mit uns geteilten Desktop verfolgen. Kennengelernt haben wir ihn da schon und eine erste zarte Bindung zu ihm aufgebaut. Mit seinem besten Freund Wilhelm (Florian Gerteis) hat sich Werther zu Beginn der Vorstellung auf Skype verabredet, sie hängen gemeinsam ab und tauschen sich über die Liebe aus – Gedanken aus der fast 250 Jahre alten Vorlage, in zeitgemäßen Worten. Werther ist ein aufgeweckter, tiefenentspannt wirkender Kerl, Wilhelm ein aufgekratzter Springinsfeld, dessen Instagram-Account @freiherrwilhelmdergrosse ihn als nimmermüden Partyhipster und naturverbundenen Wanderburschen zeigt.
Jede der vier Hauptfiguren der Goethe'schen Vorlage hat einen eigenen Insta-Auftritt, der in den Vorstellungen live bespielt wird, und jenseits der Streamings das Projekt "werther.live" in den sozialen Medien verankert. Johnny Hoffs @wer.werther postet künstlerische Collagen, auf denen vergnügte Bikinimädchen vor Kriegsruinen sitzen oder eine Steinbüste mit tränenden Augen auf die Brandung eines fernen Sternes blickt.
Angefertigt hat die surrealistischen Kunstwerke die Regisseurin Cosmea Spelleken, die sich in ihrer ersten freien Theaterarbeit film-, kunst- und technikversiert auslebt. Klara Wördemanns @lotte_s.o.s lichtet sich als träumerische junge Frau im geblümten Sommerkleid ab, die Wein und Aperol schätzt, Hannah Arendt-Street Art fotografiert und Rilke-Gedichte postet. Ihr Verlobter Albert (Michael Kranz) zeigt sich auf seinen Fotos verliebt mit Lotte oder als gutmenschelnder Weltreisender in NGO-Angelegenheiten, und @freiherrwilhelmdergrosse ist der stilsicher lässige Lebemann. Alle Vier werden greifbar durch diese Auftritte auf anderen Plattformen – wir sind es ja mittlerweile gewohnt, Mitmenschen auch über ihre medialen Rollenkonzepte zu lesen und verstehen. "werther.live" bildet diese Alltagsbühnen ab und bezieht sie versiert mit ein ins digitale Spiel.
Homer zum Download
Lotte etwa lernt Werther über eBay-Kleinanzeigen kennen. Dort verscherbelt sie die Bücher aus dem Nachlass von Alberts Opa. Werther erwirbt für seine Collagenkunst einen Bildband über alte Feuerwaffen – um einen "internationalen Waffenring zu gründen?", scherzt er mit Lotte, die er ansonsten um etliche Stufen formeller adressiert als seine Freunde. Als ihm Lotte das Foto einer "Odyssee"-Ausgabe schickt – mit der unschlagbar niedrigschwelligen Leseempfehlung "man braucht ein wenig, um reinzukommen, aber es ist super" –, kann er mit einer selbstgefertigten Homer-Collage parieren, die sie sich gerne herunterladen möchte. Und schon hat es geklickt. Das erste Date auf Zoom wirkt für beide, als seien sie einander ewig schon vertraut. Doch danach geht es, wie aus der berühmten Vorlage vertraut, für die junge Liebe abwärts. Bis Lotte sich, obwohl im Call mit Werther offensichtlich hin- und hergerissen, verlobt. Mit Albert.
Stimmig ist das In-Eins von Bildungsgut und Alltagskultur in "werther.live": Goethes Klassiker gibt die Folie, die virtuos mit Heutigkeit überklebt wird, bis ein vielschichtiges Palimpsest entsteht.
Detailfreude leuchtet aus allen Ritzen dieser nur vermeintlich kleinen Arbeit. In die Vorstellungen wird Aktuelles einbezogen, Ende Januar etwa taucht im Chat die Frage auf: "Jo Werthi, kannst Du mir ne Clubhouse Einladung schicken?" Werther, weltvergessen und liebesbekümmert, hat von der gehypten App noch nichts gehört und wimmelt den Fragesteller ab. Andere Elemente sind unwandelbar gesetzt. Als Szenentrenner klappert eine Schreibmaschine zu Goethe-Zitaten an Muzak – eine schöne Referenz an mediale Anachronismen.
Musterbeispiel Digitalen Theaters
Nicht immer setzt "werther.live" aufs Bild, sondern gönnt den Augen auch die Zeit, über die geöffneten Messages zu fliegen, das Gemälde auf Werthers Desktop-Hintergrund zu erraten oder als Zuschauer:in mit Screen Fatigue eine Weile nur zu lauschen. Dann hört man Werther beim Tippen von Nachrichten vor sich hin murmeln oder, gen Schluss, den zunehmend ruhelos nach dem verstummten Freund fahndenden Wilhelm mit Lotte skypen und verzweifelt fluchen.
Als ein Musterbeispiel für die Möglichkeiten digitalen Theaters hat "werther.live" Fans gewonnen. In der Redaktion von nachtkritik.de ebenso wie bei den Zuschauer:innen. Verdient wurde die Inszenierung jetzt beim nachtkritik-Theatertreffen unter die Sieger der Herzen gekürt. Schwärmerei? Bestimmt. Aber man unterschätze nicht die Macht der Liebe, wie schon des ollen Goethes Werther lehrt.
werther.live
nach Johann Wolfgang von Goethe
Buch & Regie: Cosmea Spelleken, Regieassistenz & Live-Schnitt: Lotta Schweikert.
Mit: Florian Gerteis, Jonny Hoff, Michael Kranz, Klara Wördemann.
Premiere am 5. November 2020
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.werther-live.de
Trailer
Kritikenrundschau
"The director Cosmea Spelleken gives Goethe's Sturm und Drang hero a refreshing update in 'werther.live', an intricately built and skillfully executed production", berichtet A. J. Goldmann in der New York Times (11.2.2021). Für den Korrespondenten ist die Arbeit "a successful experiment in subjective storytelling: The audience experiences the plot almost exclusively from Werther’s perspective, via screen recordings from his computer". Fazit zur Streamingerfahrung: "Of all the theatrical productions I've consumed over the past few months from my laptop, 'werther.live' is among the most genuinely innovative."
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Lockdown und äußere Isolationen sind hier dramaturgisch nicht ganz unbedeutend und ebenso souverän integriert wie die gleichzeitig intimen und brutalen Ausdrucksformen der schnellen, direkten, neuen Medien. Dass bei aller voyeuristisch-verführerischen Bildkraft mitgelesener fremder Desktops die Sprache in allen Varianten zentral bleibt, als naives multicore power texting wie als sentimentalisches voice messaging, Parodiefüllhorn wie Fluchtfluidum, macht den Abendstream zu herausragendem, sehenswertem, berührendem Digitaltheater.