Common Ground der Einzigartigen

4. Februar 2024. Das Publikum der Münchner Kammerspiele, so hieß es immer wieder in der Presse, würde ausschließlich das Schauspieler*innentheater lieben. Jetzt ließ es sich allerdings von einem Abend begeistern, in dem nicht einmal vier Worte gesprochen wurden.

Von Dorte Lena Eilers

"In Ordnung" von Doris Uhlich an den Münchner Kammerspielen © Julian Baumann

4. Februar 2024. Wenn Doris Uhlich sagt, Visionen ließen sich antanzen, fürchtet man, die Sache sei mit einem einfachen Sidestep erledigt. Ein schneller Wechselschritt nach links, ein Hüftschwung nach rechts und schon öffne sich das Universum, um zu verkünden, wie es weitergehen soll mit uns und der Welt. Spätestens in Minute siebzig ihres neuesten Tanzabends "In Ordnung" wird jedoch klar, wie falsch eine solche Deutung ist.

Schwer atmend und schwitzend sitzen die 16 Ensemble-Mitglieder auf der Bühne dem Publikum gegenüber. Es ist nach über einer Stunde der erste Stillstand an diesem Abend. Zuvor hatte in den Münchner Kammerspielen ein Rennen und Springen, Vibrieren und Zucken, Klettern und Schieben stattgefunden – unablässig, unbarmherzig, unaufhaltsam getrieben von dem Beat der Musik (Boris Kopeinig). Visionen zu formulieren, lernen wir bei Doris Uhlich, ist kein träumerischer Akt. Es ist harte, schweißtreibende Arbeit.

Diversität braucht Einzigartigkeit

"In Ordnung" ist die zweite Choreografie, die Doris Uhlich an den Münchner Kammerspielen kreiert. Barbara Mundel hatte sie bereits 2020 zu ihrem Intendanz-Start ans Haus geladen, was aus bekannten Gründen etlichen Komplikationen unterlag. Wurde "Habitat", eine Choreografie mit einer Gruppe von Münchner*innen, durch das Corona-Virus umformatiert, ist es nun die Realität der Straße, die ins Theaterinnere funkt. Uhlichs erklärtes Programm ist es, die Vielfalt unserer menschlichen Existenzformen, alt, jung, dick, dünn, binär, non-binär gemeinsam auf der Bühne zu vereinen, um in einer Zeit bröckelnder Verständigung Momente des Gemeinsinns zu schaffen. Nur finden sich diese – den Recherchen von Correctiv sei Dank – weitaus umfassender derzeit auch auf der Straße. 

InOrdnung3 1200 Julian BaumannAus Vielfalt kommt Sehnsucht nach Ordnung © Julian Baumann

Nun wäre es wiederum verkehrt, die Arbeiten von Doris Uhlich realpolitisch zu lesen. Sie bewegen sich vielmehr auf Ebenen sozialer Praxen oder gar der Sozialpsychologie. So thematisiert "In Ordnung" das Paradox, dass jede Vielfalt gleichzeitig auch die Sehnsucht nach einer Ordnung heraufbeschwört. Sei es aufgrund des menschlichen Bedürfnisses nach Übersichtlichkeit. Sei es aufgrund gesamtgesellschaftlicher Notwendigkeiten. Wenn jeder besonders ist bzw. sein will, sprich: Differenzen betont, so könnte man es im Sinne der "Gesellschaft der Singularitäten" von Andreas Reckwitz formulieren, droht das Gemeinsame zu erodieren. Der Berliner Soziologe macht seinen Befund unter anderem auch am Beispiel des Internets deutlich, welches im Inneren zwar aus standardisierenden Nullen und Einsen besteht, nach außen hin aber als große Singularisierungs-Maschine wirkt. Nur dem Besonderen, Einzigartigen, Originellen, welchem die Userinnen und User auf ihren Internetprofilen zustreben, sind im Kampf um Aufmerksamkeit die Klicks sicher.

Wettbewerb um Aufmerksamkeit

Derartigen Dilemmata geht die Choreografie von Doris Uhlich nach. Steht zu Beginn des Abends das Ensemble exakt nach Körpergröße geordnet und in neutrales Schwarz gekleidet an der Rampe, tunlichst bemüht, niemanden aus der Reihe tanzen zu lassen, beginnt die Ordnung alsbald zu bröckeln. Die erste bricht aus, der zweite, bis alle 16 Spielerinnen und Spieler – darunter der 84-jährige Walter Hess und der im Rollstuhl sitzende Samuel Koch – kreuz und quer den Raum durchmessen, bis hinunter ins Parkett, wo sie wie auf einem Catwalk an den Zuschauerinnen und Zuschauern vorbeiziehen. Jeder präsentiert sich, jede lässt sich bestaunen. Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit hat begonnen.

InOrdnung4 1200 Julian BaumannJede*r gegen jede*n © Julian Baumann

Auf der Bühne fahren wie bei Tetris immer wieder Bühnenteile rauf und runter, die mit ihren Treppen, Emporen, Icons, Tasten, Pfeilen und Zahlen wie eine Bild gewordene Turing Maschine wirken: das natürliche Biotop der hier lebenden Digital Natives (Ausstattung Juliette Collas). Off, minus Zwei, Pfeil rauf, Pfeil runter – hier verändert sich alles, und zwar permanent. Ein weiterer und vielleicht entscheidender Faktor, der den Ruf nach Ordnung induziert.

Eroberung aller Ebenen

Wie aber lässt es sich leben in einer Welt, die sich ständig verändert? Wie geht man um mit dem Dilemma zwischen einer sich emanzipatorisch entfaltenden Vielfalt und einem drohenden Verlust des Common Grounds? Doris Uhlich übersetzt diese Fragen in formstarke Gesten, Abläufe und Bilder. Immer wieder zerren und rütteln die Spielerinnen und Spieler an der Maschine, schieben ihre Bauteile umher, verklumpen sich zu Gemeinschaften, fast gewaltvoll Halt am Nebenmenschen suchend, nur um kurze Zeit später, repetitiv gestikulierend wie Fritz Langs Maschinisten, wieder in die Individualität zurückzufallen. Letztere indes tritt – und so kippen die Zeichen ständig hin und her – auch als Befreiungsgeste auf, als am Schluss die Spielerinnen und Spieler in exzentrischen Kostümen – braune Langhaarjacken, durchsichtige Plastikmäntel, kükengelbe Tüllröcke (scheinbar Ergebnis eines fröhlichen Diebeszugs durch den Fundus) – Parkett und Ränge bespielen. 

Es ist für die Kammerspiele, deren Ensemble hier als hochenergetisches Tanzkollektiv auftritt, ein eindrücklicher Abend, wenngleich Uhlichs Gesamtwerk wesentlich radikalere Ansätze kennt. Vom angeblich so schauspielfixierten Münchner Premierenpublikum jedenfalls wird "In Ordnung" begeistert gefeiert. 

In Ordnung
Regie und Choreografie: Doris Uhlich, Ausstattung: Juliette Collas, DJ und Sound: Boris Kopeinig, Choreografische Zusammenarbeit & Trainingsleitung: Hugo Le Brigand, Dramaturgie: Hannah Saar.
Mit: Dennis Fell-Hernandez, Walter Hess, Johanna Kappauf, Samuel Koch, Jelena Kuljić, Anna Gesa-Raija Lappe, Sina Leinweber, Christian Löber, Stefan Merki, Fabian Moraw, Edith Saldanha, Leoni Schulz, Şafak Şengül, Anja Signitzer, Vinzenz Sommer und Luisa Wöllisch.
Premiere am 3. Februar 2024
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

muenchner-kammerspiele.de


Kritikenrundschau

"'In Ordnung' ist eine seltsam pädagogische und rigide strukturierte Selbstbeschränkung, die als Selbstfeier erscheint", schreibt Wiebke Hüster in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.2.2024). Im Verlauf von siebzig Minuten stelle sich "der Eindruck von intellektuellem Stillstand und Naivität ein, ausgelöst von der Stummheit und Einfachheit des Stücks". "Den Schauspielern bei ihren Posen, ihrem Rennen, ihren Tänzen oder dem Herumschieben der Bühnenbildteile zuzusehen ist nur begrenzt interessant. Es geht um Authentizität, nicht um eine formalisierte künstlerische Ausdrucksweise. Alle Unterschiede zwischen denen auf der Bühne und uns im Parkett sollen verschwinden", so Hüster. "Das Theater von Doris Uhlich möchte so sein, dass es nicht kritisiert werden kann. Alle tanzen gerne mit anderen, alle schauen anderen gerne beim Tanzen zu."

Einer "kollektiven Entfesselung aller Bühnenenergie" wohnte Vesna Mlakar bei und schreibt in der Abendzeitung (5.2.2024): "Der Weg, den die heterogene, enorm individuell erscheinende Gruppe beschreitet, füllt wundersame 70 Minuten", in denen sich der Abend eher ästhetisch als inhaltlich verdichte. "Vor allem das impulsiv Ungebändigte dieser Uraufführung, die eine performative Suche nach Chaos und daraus frei neu zu findenden Ordnungsprinzipien sein will, lässt oftmals schmunzeln."

"Es läuft, es treibt, aber so ganz voran kommt das Stück trotzdem nicht. Auch, weil die ideelle Aussage und das auf der Bühne zu Sehende von Anfang an deckungsgleich sind", schreibt Rita Aargauer in der Süddeutschen Zeitung (5.2.-2024). "So erzählt sich größtenteils eine mächtige, schöne, aber eben in der ästhetischen Erfahrung auch ein bisschen eintönige Selbstbestätigung."

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