Feeling Faust - Münchner Volkstheater
Ist das Kanon oder kann das weg?
29. Oktober 2022. Regisseurin Claudia Bossard bringt am Münchner Volkstheater "Feeling Faust" auf die Bühne – ohne Gretchen, dafür mit einer Schar Brille tragender Germanisti:nnen, die sich über die Streichung von Goethes Gelehrtenstück als Pflichtlektüre in der Schule echauffieren. Aus feministischer Sicht ließe sich einiges entsorgen - Mansplaining, Allmachtsfantasien und Kolonialismus -, anderes jedoch nicht, wie der Abend zeigt.
Von Dorte Lena Eilers
29. Oktober 2022. Habe nun, ach! Dramaturgie, Schauspielerei und Stücktext. Und natürlich auch das Programmheft durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da sitz ich nun, ich Arme. Boah! Und bin so klug als wie zuvor.
Wer so beginnt, ist gleich verdächtig. Kann sich sofort einreihen in dieses Expertengrüppchen dort oben auf der Bühne, das es sich in Szene eins – welcher Vers? – in den weißen und schwarzen Loungesesseln bequem gemacht hat. Doch was heißt hier bequem? Bequem ist im Grunde rein gar nichts. Es herrscht helle Aufregung – wenngleich sich diese bei der hier vertretenen Spezies der bebrillten und Cordhosen tragenden deutschen Germanisten-Elite (Kostüme Andy Besuch) eher in hektischen Griffen zum Reclamheft und einem veritablen Zitate-Durchfall äußert. Bloß nicht unoriginell werden! "Erstaunlich"? So spricht das einfache Volk. Hier heißt es "augen-aufreißend", "netzhautbefeuchtend", "mind-set-inspiring". Ach, ups, das war jetzt kein Deutsch? Egal. "Stichwort: Eternity. Stichwort: Endlichkeit. Stichwort: Licht. Stichwort: Mehr Licht. Stichwort: Erkenntnis. Stichwort: Faust 1. … Stichwort: Faust 2. … STICHWORT: Ciao Klassiker." Was ist passiert?
Abschied! Ist das schlimm?
Am 13. September 2022 verabschiedete sich, wie bereits etliche Bundesländer zuvor, nun auch der Freistaat Bayern von Goethes "Faust" als Pflichtlektüre in der gymnasialen Oberstufe. Künftig wird, wer hierzulande bildungshuberisch mit Faust-Zitaten um sich wirft, zunehmend fragende Blicke ernten. Ist das schlimm? Dieser Frage gehen Regisseurin Claudia Bossard und ihr Ensemble in „Feeling Faust“ am Münchner Volkstheater ausgiebig nach. "Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der Faust: Ein Fall für die Ewigkeit oder ein ewiger Fall in die Tonne." Oder anders gefragt: "Gibt es Bücher, die man gelesen haben muss, um Mensch zu sein, ja sein zu dürfen?"
Nun sind Witze über Lehrende und Gelehrte, zumal wenn diese daherkommen, als wären sie just aus einem Adorno-Seminar getürmt, im Theater so beliebt wie leicht zu haben. Doch der erste Eindruck täuscht. Was als kalauerndes Pädagogen-Bashing startet, verwandeln Luise Deborah Daberkow, Carolin Hartmann, Jan Meeno Jürgens, Maral Keshavarz, Steffen Link, Janek Maudrich und Liv Stapelfeldt in einen subtilen Schlagabtausch im Mikrokosmos der Talkshow. Da kann Frau noch so breitbeinig Raum behaupten, ihren Nachnamen hat der Moderator – und schon hat man Marcel Reich-Ranicki vor Augen, wie er Sigrid Löffler im "Literarischen Quartett" eins reinwürgt – dennoch nicht parat.
In Claudia Bossards "Feeling Faust" geht es, wie kann es anders sein, natürlich auch um den Genderdiskurs. Hier das große, Länder und Welten durchschreitende Genie – "Goethe/Faust/Johann/Heinrich" – und dort: Gretchen. "Wer liest Gretchen? Keiner? Also ohne Gretchen." Auch das noch. Bossard ist spätestens seit ihrer Inszenierung der "Physiker" 2019 am Schauspielhaus Graz, in der sie Mileva Marić, Albert Einsteins Ehefrau, aus dem Schatten des Mathe-Genies befreite, Expertin für feministisch gelesene Klassiker. Das klingt, so vereinfacht gesagt, nach Masche. In "Feeling Faust" ist es das definitiv nicht.
Fröhliche Diskurse und Goethes Höhenangst
Die gut zweistündige Inszenierung, deren Stücktext die Regisseurin (unter Mitarbeit von Barbara Juch und Steffen Link) aus "Faust I" und "Faust II" kompiliert hat, oszilliert zwischen zahlreichen Bedeutungssträngen. Es geht um Klassiker, den männlichen Kanon und das Bildungssystem; um Mansplaining, Allmachtsfantasien und Kolonialismus; die Krise des Mannes und die Krise des Genies.
Noch im Kreis der Expertenrunde wird der Fall Faust als Fall Goethe versuchsweise psychoanalytisch gelesen, Laurie Pennys Devise folgend, dass nachdem Männer jahrhundertelang über die Gefühle von Frauen geredet haben, nun Frauen über die Gefühle von Männern sprechen. Das klingt heikel, wird aber nach ein paar fröhlichen Exkursen zu Goethes Höhenangst und seiner Übererregbarkeit – "Johann sei bis zur ersten Italien-Reise nicht nur beinahe sexuell abstinent, nein, impotent gewesen, weil er aufgrund seiner Übererregbarkeit … gar nicht weiter als bis zum Küssen gekommen sei" – als "komparatistischer psychoanalytischer Schulhof-Gerangel-Ansatz" sowieso mit Verve vom Tisch gewischt. "Gret(s)chen" wir also mit einem anderen Thema rein.
Durch die Themen gretschen
Mehr gewaltvoll als höflich hatten Bühnenarbeiter nach Szene drei den Diskutantinnen und Diskutanten die Sessel unterm Hintern weggezogen. Nun stehen sie da: lost on stage. Bühnenbildnerin Elisabeth Weiß hat die große Bühne des Volkstheaters mit nicht viel mehr als einem weiten, weißen Rundhorizont und einer windschiefen Palme ausgestattet. Sichtlich unwohl schieben sich die sieben Expertinnen und Experten durch diesen entseminarisierten Raum – bis, dem Drama sei Dank, ein Schüler auftritt (Alexandros Koutsoulis), der unterrichtet werden will. Oder sollte man sagen: abgerichtet? Jedenfalls kniet er bald bellend am Boden, allzeit bereit, jedes hingeworfene "Faust"-Heftchen zu apportieren.
An dieser Stelle wird die Inszenierung, die auf großen Screens von einem Video-Schnipsel-Gewitter begleitet wird, das alles Schreckliche dieser Welt zu vereinen sucht (Annalena Fröhlich), zunehmend diffus. Erst als sich Steffen Link und Jan Meeno Jürgens in der "Lovebox", einer brokatverzierten Sprecherkabine an der Bühnenrampe begegnen, kommt der Abend zu Atem. Nach wie vor mit Faust-Zitaten bewaffnet, entstehen zwischen den beiden Männern Momente zaghaften Begehrens. Eine berührende Szene, die zeigt, dass Goethe auch nichtheteronormativ gelesen werden kann. Jan Meeno Jürgens Interpretation von Morris Alberts Song "Feelings" jedenfalls macht, in der aseptischen Weite der Bühne performt, zumindest an diesem Abend das Gerede vom derzeitigen Diskursgeknirsche des Theaters zunichte.
Doch das Drama wäre kein Drama, ginge die Sache gut aus. In einer großen Schlussapotheose lässt Bossard ihre wild zusammengemischte "Faust"-Kompilation ins Düstere kippen. Nach einem weiteren Dicke-Hosen-Monolog von Steffen Link – "Kennst du The Revenant? Hab ich gespielt … 3 Wochen durchs Eis gekrochen … Und dann zack, Oscar. Hab ich bekommen. Was noch? Grammy hab ich bekommen. Für Sign of the times. Kennt ihr? Harry Styles. War ich" usw. – zappelt sich eine zombihafte Frauenarmee in schrillen Kostümen und Turmfrisuren zu Elektro-Beats in die Erschöpfung, während Carolin Hartmann von ihrem Panorama-Haus auf Usedom erzählt – das stumpfe Plock, Plock eines wieder und wieder abgeschlagenen Golfballs liefert den stupiden Sound dazu.
"Das ist für mich nichts Neues zu erfahren, / Das kenn´ ich schon seit hunderttausend Jahren. / Das ist die Welt / Sie steigt und fällt / Und rollt beständig; / Sie klingt wie Glas – / Wie bald bricht das!". Auch das stammt aus "Faust". In die Leere unserer voll digitalisierten, konsumhungrigen Gesellschaft gesprochen, klingt das heutiger denn je.
Feeling Faust
nach Motiven von Johann Wolfgang von Goethes Faust I und Faust II
Regie: Claudia Bossard, Bühne: Elisabeth Weiß, Kostüme: Andy Besuch, Künstlerische Mitarbeit, Kostüme: Frank Salewski, Video & Sound: Annalena Fröhlich, Dramaturgie: Katja Friedrich, Licht: Björn Gerum. Mit: Luise Deborah Daberkow, Carolin Hartmann, Jan Meeno Jürgens, Maral Keshavarz, Alexandros Koutsoulis, Steffen Link, Janek Maudrich und Liv Stapelfeldt.
Premiere 28. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.muenchner-volkstheater.de
Erst werde der Faust zerredet, dann werde er zerlegt, so Christoph Leibold im DLF Fazit (28.10.2022). "Die Inszenierung versucht Goethe gegen Goethe in Stellung zu bringen, indem mit 'Faust'-Text verhandelt werde, ob es sich lohnt, dieses Stück zu inszenieren." Claudia Bossard operiere mit Versatzstücken. Aber viel zu viele Szenen seien darunter, die in ihrer assoziativen Zugangsweise beliebig wirken und es drücke sich nur ein allgemeines Unbehagen gegen den Stoff aus. Steffen Link habe eine Szene, wo er für eine Weile zu einer Mischung aus Faust und Goethe himself wird, der sich an der eigenen gefühlten Größe berauscht. Eine Auseinandersetzung mit dem Goethe-Bildungskult, die überzeugend sei. "Das hat in der Dreistigkeit schon wieder Charme." Aber dann zeige Bossard wieder, wo der postdramatische Hammer hänge, teil in einer Mackerhaftigkeit, die befremdlich wirke gerade in dem Kontext, was der Abend sonst erzählen wolle.
Wenn ein Abend "Feeling Faust" heiße, dann sei "schon klar, dass der Erkenntnistheorie bald der Garaus gemacht wird", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (30.10.2022). Alle redeten "echauffiert aufeinander ein, natürlich auch hinreichend feministisch unterfüttert". Leider gehe es dabei auch "fahrig, verworren, wirr" zu und neben all dem Fühlen wäre ein "bissel Denken" auch "schön". Mithin habe der Abend aber "seine Berechtigung", wie der Rezensent auch anhand der vielen "strahlenden" jungen Menschen im Publikum beigibt.
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