Am Rand (ein Protokoll) - Jan Philipp Glogers Uraufführung einer Grenzwert-Groteske seines Hausautoren Philipp Löhle in Nürnberg
Umarmung für alle gegen den Weltkrieg
von Dieter Stoll
Nürnberg, 9. März 2019. Der anreisende Polizeiobermeister in Zivil schleppt seinen Koffer ("ohne Rollen", steht in der Regieanweisung, also schwitzt er) über die Staatsstraße im deutsch-tschechischen Grenzland. Dem neuen Arbeitsplatz in der schäbigsten Ecke der grade noch bayerischen Oberpfalz entgegen und ohne Zweifel daran, was von einem Ort namens Randhausen zu halten sei: "Kackdorf", sagt er ungeschützt. Doch im Ernst, lässt der auch als Fußnotenwart lauernde Autor sogleich mit Zweifeln einhaken, was bedeutet so eine Beschimpfung schon, wenn sie niemand hört. So viel wie der gern zitierte Sack Reis, der in China umfällt – was in diesem Stück vor Ort später naturgemäß ein Sack Karotten sein wird.
Troll und Schwein und Kaff
Philipp Löhle, der fleißig schreibende und oft gespielte Dramatiker mit Lust auf temporäre Spielplan-Mitverantwortung als Hausautor (war er schon am Berliner Gorki, in Mannheim und Mainz, ist er nun mit dem selbstironisch gebastelten Titel "Haustronaut" bei dem seit Herbst 2018 als Schauspieldirektor amtierenden Jan Philipp Gloger in Nürnberg) fuchtelt mit wohlformuliertem Widerspruch angeheitert in den eigenen Dialogen herum. Es ist wie es ist: In dieses grenzwertige Kaff fährt nicht mal ein Bus, die naiven Anwohner lassen bis zum Verlust ihrer diesbezüglichen Unschuld neben den Fahrrädern sogar die Haustüren unverschlossen, und erste Unruhe mit Knalleffekt stiftet ein "staatenloses Wildschwein".
Das Tier zertrampelt Felder und muss bürgerwehrhaft bekämpft werden – mit Gewehr, Nationalstolz und Maschendrahtzaun. Unabhängig davon werden auf einer Lichtung zwei Rehkitze (sicher süß, leider unsichtbar!) zur Welt gebracht und tief im Wald soll ein pelziger Troll (Fabelwesen, nicht Internet-Akteur!) undurchsichtige Verhältnisse mit der Dorfjugend pflegen.
Könnte problematisch sein oder auch nicht, da muss man doch was tun für die ganze Wahrheit. Dass dem Polizisten beim Sprudel-Trinken die Kohlensäure "seine Augen von hinten kitzelt", wie es der Autor beiläufig enthüllt, hätte ja auch nie jemand zu vermuten gewagt. Eine besondere Herausforderung für den Schauspieler (Felix Mühlen spielt den vorne tränenden Ordnungshüter so konsequent, dass ein "Tatort Oberpfalz" vorerst nicht zu befürchten ist), aber er darf sich unbefangen wundern. Vor allem über zwei Protokollanten mit dem Über-die-Schulter-Blick (Pius Maria Cüppers und Tjark Bernau in lustvoll gedehnter Doppel-Conference schwadronierend), die alle Ereignisse memorieren, und zum Finale ihrer Unheil-Moderation wie nach einer plötzlichen Weggabelung in gegensätzliche Realitätsbeschreibungen verbal ausschwärmen.
Vom Theater zum Hörspiel
Letztlich führt die Geschichte des frisch gefällten Mischwald-Schlagbaums als Schutzwall gegen die Angst vor dem Fremden aus der ländlichen Maibaum-Dimension unerwartet zum Weltkrieg (Finnland beschießt überraschend Russland, Atommächte werfen Warenproben in die Nachbarschaft, Uschi schickt Panzer, der Vatikan tritt spät als vorletzte Nation von ehemals 194 in die Kämpfe ein), am alternativen Ideal-Weg erstrahlte zuvor die wundersame Kuschel-Utopie von Licht mit Musik (weltweit und in der Premiere erste Reihe Parkett umarmt man sich) – auf einer Spur werden die Kitze zu Wurst verarbeitet, auf der anderen vom wundertätigen Troll zum Objekt neuer Streicheleinheit auferweckt. Ach je, wie verwirrend das Leben ist. "Wer das hier findet…", steht im Protokoll als Schlusssatz-Fragment. Die drei Pünktchen sind das verhauchte Fazit, das Theater war da bereits zum Hörspiel geronnen und man könnte im Sinne des vereinigten Humors von Autor und Regisseur vom "Protokollaps" reden.
In die Szene gekippt
Regisseur Jan Philipp Gloger hat geradezu unheimlichen Spaß an der schrägen Stimmungslage, die ihm der Autor seines Vertrauens (Gloger und Löhle sind hier bereits im sechsten Projekt verpartnert) als Spielmaterial aus Grotesken-Teilchen in die Szene kippte. Auf der flachen Cinemascope-Bühne der Nürnberger Kammerspiele, die für den ersten Blick die große Leere der Gesellschaft mit dem kleinen Trost der Überraschungs-Spotlights vorführt, baute Bühnenbildnerin Franziska Bornkamim die Anarchie der Requisite als Chaos-Simulation aus. Zum Ortsschild kommt die Feydeau-taugliche Eingangs-Tür für alle Klippklapp-Fälle, dazu das Bett für jede Nutzung, ein Rechteck voll Kornfeld und flankierende Arbeitstische für die Beobachter.
Sieben weitere Schauspieler, allesamt in denkbar bester Komödianten-Fitness auch im Zuschauerraum unterwegs, sausen durch weitere siebzehn Rollen, gerne mutwillig hakenschlagend an der Wahrnehmungsfähigkeit vorbei. Man bestaunt gut gelaunt die wie geölt funktionierende Pointen-Mechanik, aber wo mag bloß das beschworene Schreckgespenst vom Albtraum der allgemeinen Angst-Hysterie abgeblieben sein? Die Welt geht unter, was haben wir gelacht. "Die Wahrscheinlichkeit nimmt jeden Tag zu, dass etwas passiert, wenn bisher nichts passiert ist", legt der Autor seinen lustigen Bürger-Dämonen in den Mund. Das könnte als Apokalypse-Ankündigung passen - oder ein Hinweis auf die Lottozahlen sein.
Am Rand (ein Protokoll)
von Philipp Löhle
Uraufführung
Regie: Jan Philipp Gloger, Bühne: Franziska Bornkamm, Kostüme: Franziska Bornkamm, Anna Lechner, Licht: Tobias Krauß, Dramaturgie: Brigitte Ostermann, Musik: Kostia Rapoport
Mit: Pius Maria Cüppers, Tjark Bernau, Felix Mühlen, Stephanie Leue, Maximilian Pulst, Raphael Rubino, Michael Hochstrasser, Adeline Schebesch, Madita Herzog/Letizia Kral, Fanny Stahl/Anna Chan
Premiere am 9. März 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
Kritikenrundschau
Viel Sinn für Situation und Komik erkannte Sven Ricklefs vom Bayerischen Rundfunk (10.3.2019). Phillip Löhles Stück sei eine fulminant dystopisch-utopische Groteske. Sie treffe sehr präzise ins Herz unserer Zeit, die gerade aus den Fugen zu geraten drohe.
Die stimmige Inszenierung schnurre elegant-geschmeidig und vor allem hochunterhaltsam auf die beiden alternativen Enden zu, so Susanne Helmer von den Nürnberger Nachrichten (11.3.2019). Das Timing stimme im gesamten Ensemble zu jeder Zeit. "Durch den Schleier der Leichtigkeit schimmert aber immer wieder der Ernst der Lage der Nation — ach was, der ganzen Welt — durch. Sind wir nicht alle ein bisschen Randhausen?"
Es sei gut, dass Löhle und Gloger als Regisseur alles Konkret-Politische außen vor ließen "und die Parabel vom Dorf, das sich aufrüstet, als lustig-launiges Mosaik präsentieren", so Wolf Ebersberger von der Nürnberger Zeitung (11.3.2019). Zu den Protokollanten: "Was eine unnütze Verdopplung sein könnte (und viel Zeit kosten), wird hier zur zweiten Ebene, die durch Ironie und Kontrast zur Realität ihre Unabhängigkeit gewinnt. Und die Kunst des Theaters – aus Text wird Spiel – keck umdreht: Das Spiel wird wieder Text, wird Literatur, wird Platz für reichlich Pointen." Und weiter: "Das Timing sitzt, das Ensemble wechselt wieselflink die Rollen, mit Lichteffekten und Musik wie im Kino (Kostia Rapoport) werden die zwei Stunden zum spannenden Mystery- Puzzle aus der Provinz."
"Der Clou an diesem Text über Ängste und Grenzen ist, dass er selber an eine Grenze stößt und sich von da an teilt: in ein utopisches und ein dystopisches Stück, mal mit einem fast peinlich harmonieseligen, mal mit einem realistisch horriblen Schluss", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (13.3.2019) und lobt die Rasanz der Uraufführungsinszenierung: Die "Szenen mit den besorgten Müttern und den nächtlich jagenden Wutbürgern" seien "besonders lustig".
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