Anfang und Ende des Anthropozäns - Staatstheater Nürnberg
Der Traum der Nuklearforscherin
20. November 2021. Als komödiantisch verzerrter Thriller beginnt Philipp Löhles neues Stück, aber am Ende kippen 5000 Tonnen radioaktiver Müll über den Planeten und aller komödiantischer Witz ist aufgebraucht. Die wilde Zukunfts-Dystopie hat Jens-Daniel Herzog zur Uraufführung gebracht.
Von Andreas Thamm
Nürnberg, 20. November 2021. Das Publikum stolpert in ein laufendes Stück. Da ist eine Frau im Bademantel, die nicht ganz bei sich zu sein scheint. Und ein Polizist, der beruhigend auf sie einredet. Irgendwas von Windkraft, ein Rotorblatt, zu dem sie jeden Tag spaziert. „Sie nennt es sein Windgrab". Die hellen Wände im Bühnen-Hintergrund sind schwarz beschmiert. "Stecht die Schlampe ab!", steht da. Das sind die Wände ihres Hauses offenbar. Der Polizist macht sauber.
Noch ist das wirr, dieser Einstieg ins laufende Prozedere von "Anfang und Ende des Anthropozäns", dem neuen Stück des Hausautors Philipp Löhle am Nürnberger Staatstheater, die erste Regiearbeit von Intendant Jens-Daniel Herzog, der bislang nur nebenan im Opernhaus inszenierte. Herzog platziert die Schauspieler*innen in einem weißen Bühnenraum und rund um ein bewegliches Fenster, einen Kasten, der als Bühnenbild und Requisit verschiedene Rollen einnimmt.
Ans Gerät gefesselt
Die Frau, Svantje Plunder, beginnt zu erzählen, sie imaginiert sich eine Orwell‘sche Zukunft, in der die Menschen keine Namen tragen, nur Zahlen und in kompletter Abhängigkeit von ihrem Gerät leben. Sie erträumt sich einen Mann, 27, der sein Gerät kaputt macht, sodass nichts mehr funktioniert: Er kann nicht mit dem Bus fahren, er kann sich kein Essen bestellen, er beginnt in einem Kochbuch zu blättern und schwupps: Stasi-Typen in langen Mänteln verfrachten ihn in ein so bürokratisches wie deppertes Institut. Der Kasten, der eben noch sein Regal war, ist nun die Zelle, in der ein kafkaesker Held jammert: "Warum verstehe ich so wenig?"
Nun befinden wir uns in einer Handlung aus Abfolgen, die immer wieder gebrochen wird durch die Erzählerin, die Dirigentin dieser Figuren, die wie Karikaturen wirken. Eine Forscherin steckt zu 27 eine Frau in die Zelle, 42, und erklärt, von Wortfindungsstörungen geschüttelt, die beiden befänden sich in einem Geheimprogramm: "Sie sind unsere letzte Hoffnung." Denn, was man schon ahnte: Die Menschen in der Zukunft sind wahnsinnig verblödet. Ein Gehilfe in Fleischerschürze frisst direkt das Diagramm, das die Verblödung illustriert.
Der amerikanische Onkel
Diese beiden jedenfalls, das ergab die ständige Überwachung, sind klug. 27 hat gelesen, um zu Kochen. 42 schaffte es eine Erdnuss aus einer Karaffe zu holen und hat einmal Kisten gestapelt, um drauf zu steigen. Jetzt müssen die beiden sich fortpflanzen, so wie man das früher einmal getan hat, ganz ohne Zentrifugator. Nicht nur, dass sie nicht recht wissen, wie sie das anstellen sollen, es gibt noch ein Problem: "Ich glaube, ich mag dich nicht", gesteht 42.
"Anfang und Ende des Anthropozäns" ist in diesem Stadium ein komödiantisch verzerrter Thriller. Die Auserwählten fliehen, wollen untertauchen, kapern ein Flugzeug. Der Kasten ist ein Cockpit, die Wand funkelt, Sterne, die Erdkugel. Und Svantje, die unsichere Erzählerin, die zwischendrin immer mal nachjustiert, bestimmt: "Sie fliegen monate-, sie fliegen jahrelang". Fast unbemerkt wandert der narrative Staffelstab zu 42, die sich an ihren Onkel John erinnert, der Onkel John, der so gerne Fortpflanzung mochte, der in Amerika lebte, als es das noch gab und dessen Drama begann, als sein Sohn auf der Schnellstraße überfahren wurde, Fahrerflucht.
Flucht in letzte Bastionen
Diese Menschen von früher, also heute, der Trucker John und seine Familie, sind gegen das Grau der Zukunft zuerst mal vor allem eines: kräftig bunt. Und Raphael Rubino spielt John, der sein Trauma mit einer Flucht auf die Insel der Sentinelesen, die seit 55.000 Jahren den Kontakt zur Außenwelt meiden, überwinden will, mit einer wilden, körperlichen Lust. Er windet sich von Pfeilen durchlöchert, er kotzt von den giftigen Beeren, er baumelt mit den Füßen nach oben, weil er von den Ureinwohnern in einen Kochtopf gesenkt wird. Die in rotes Licht getauchte Bühne dampft höllisch.
Das Erzählen ist Thema und es ist, gerade weil es sich so zupackend am Klischee bedient, endlich wieder reine Fiktion, die sich dann ablöst von der Oberfläche: Die Inselbewohner lachen sich tot, weil John das echt geglaubt hat mit dem Getrommel und dem Kannibalismus. Das Klischee war ein Schauspiel, eine Finte und im Traum von den Sentinelesen begegnet John seinem Sohn wieder, der endlich seine Geschichte erzählt, durch die Autor Löhle ein Tor aufschließt zu dieser letzten Ebene, die aus der Karikatur ganz bitteren Ernst werden lässt.
Svantje saß in diesem fahrerflüchtigen Auto neben Taivo Tamm, eine Holländerin und ein Este, zwei Forscher auf dem Weg zu einem Kongress (der Kasten ist eine Cocktailbar), auf dem sie sich ineinander verlieben werden. Ihre gemeinsame Leidenschaft ist die Erschaffung einer grünen Zukunft mittels Raketentransport von Atommüll ins All. Ein großer Triumph. Eine Fernsehmoderatorin will noch ein Selfie, die Wände sind übersät mit Twitter- und Instagram-Gratulationen. Die ganze Inszenierung dieses großartigen Stücks ist voll wie ein köchelnder Topf mit kleinen, anreichernden Ideen, die sich ideal einfügen in dieses wilde Spiel - das Spiel der Fiktion und mit der Fiktion und den Modi der Erzählung.
5000 Tonnen radioaktiver Müll
Der Staffelstab des Erzählenden liegt bereits beim Polizisten: "Der bunte Regen sieht aus wie eine Kunst-Installation." Das Paar verfolgt ihn auf der Terrasse. Das ist ihr Werk, 5000 Tonnen radioaktiver Müll, der sich über die Menschheit ergießt, bunt visualisiert wie eine schrecklich schöne Halluzination. Und alles kippt, die Tonalität der Komödie ist aufgebraucht, der Witz war eine Falle, die Schmierereien werden wieder angebracht, der Erzähler ist Polizist. Und wie Pauline Kästner nun diese gebrochene Frau spielt, gebrochen vom Menschheitstrauma und dem persönlichen Trauma durch den Verlust ihres Mannes, geht ungemein nahe. Die Geschichte hat sich herausgeschält. Und Svantje stellt sich einen Menschen vor.
Anfang und Ende des Anthropozäns
von Philipp Löhle
Regie: Jens-Daniel Herzog, Bühne und Kostüme: Mathis Neidhardt, Sound und Video: Karolin Killig, Dramaturgie: Fabian Schmidtlein, Licht-Design: Günther Schweikart.
Mit: Pauline Kästner, Anna Klimovitskaya (in der Premiere wegen Krankheit: Stephanie Leue), Llewellyn Reichman, Nicolas Frederick Djuren, Felix Mühlen, Raphael Rubino.
Premiere am 19. November 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
Kritikenrundschau
Dass Löhles Stück "in seiner absurd kreisenden Slapstickhaftigkeit" funktioniert, habe "mit dem ganzen, bestens eingespielten Ensemble zu tun – und wie Jens-Daniel Herzog es als Regisseur zu immer neuen Kabinettstückchen herausfordert", schreibt Wolf Ebersberger in den Nürnberger Nachrichten (22.11.2021). "Ja, wir entwickeln uns zurück, so Löhles böse Zeit-Diagnose, die in einer sozusagen global verdummten Zukunft beginnt, um in eine verkrachte Vergangenheit zu gehen und in einer verseuchten Gegenwart zu enden: als ewiger Zyklus von Krisen, Pannen, Wahnsinn. Das erinnert manchmal an die lustigen Dystopien eines Kurt Vonnegut."
Für den Bayerischen Rundfunk BR 24 (21.11.2021) berichtet Christoph Leibold: "Philip Löhles neues Stück hat Züge einer Farce. Jens-Daniel Herzog hält das Tempo der Aufführung entsprechend hoch, manchmal zu hoch. Die weiße Bühne wird mit Videos von Skylines, Sternenhimmel und Explosionen bespielt, was in Verbindung mit entsprechenden Sounds an sich schon zu einer gewissen Reizüberflutung führt. Dass das Ensemble bei allem lässigen Spielwitz angesichts dieser Hochtourigkeit, die ihm die Regie abverlangt, immer wieder mal überdreht, macht den Abend mitunter noch anstrengender."
Löhles Text , der auf "Humorpfoten daherkommt", begegnete Christine Dössel für ihren längeren Artikel zu Science-Fiction-Stücken in der Süddeutschen Zeitung (30.11.2021). "Da ist vieles lustig und gut erfunden, aber nur weniges tut – hier – weh. Es schmerzt eher nur die übertourige Blödelei mit zu viel Geschrei, die der Intendant Jens-Daniel Herzog auf der Bühne zulässt bzw. veranstaltet." Der Inszenierung fehle es "an Feinjustierung".
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