Moskitos - Staatstheater Nürnberg
Widerspenstige Elementarteilchen
26. März 2023. Jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise, lehrte uns Tolstoi einst, und auch Lucy Kirkwoods Familiendrama steht dem in nichts nach: Teilzeit-nymphomanische Impfverweigerin trifft hier auf Ex-Wissenschaftlerin, Rationalitäts-Fetisch auf das Bekenntnis zum Chaos. Und es brummt.
Von Wolfgang Reitzammer
26. März 2023. Als Friedrich Dürrenmatt 1962 in seiner mittlerweile zum Klassiker geronnenen Groteske drei Physiker in einer Schweizer Nervenheilanstalt versammelte, konnte er nicht ahnen, dass die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft auch noch 55 Jahre später als Stoff für ein Theaterstück taugen würde. Die englische Dramaturgin Lucy Kirkwood hat 2017 ihr Stück "Moskitos" im Londoner Royal National Theatre zur Aufführung gebracht, das Nürnberger Staatstheater präsentiert nun (nach der deutschen Erstaufführung 2018 in Kassel) eine bemerkenswerte weitere Auflage dieses well made play nach bester englischer Machart.
Querdenkerin, Impfverweigerin, Gelegenheits-Nymphomanin
Schauplatz ist wiederum die Schweiz, wo die nobelpreis-verdächtige Alice im Genfer Beschleunigungszentrum CERN die Elementarteilchen durch die 28 Kilometer lange Schleife mit dem schönen Namen "Large Hadron Collider" jagt. Doch keine Angst, auch ohne ein abgeschlossenen Physik-Studium kann man dem unterhaltsamen Stück folgen, denn die wissenschaftliche Apparatur ist nur der Hintergrund für ein Familiendrama mit drei Generationen. Alice hat nämlich eine Schwester Jenny, die völlig aus der Art der streng rational orientierten Sippe gefallen ist.
Diese rustikale Dreigroschen-Jenny ist eine Glanzrolle für Julia Bartolome, die der Versicherungs-Verkäuferin in einem dubiosen Call-Center herrlich prollige Züge verleiht. Sie ist Querdenkerin, Impfverweigerin und Gelegenheits-Nymphomanin, sie glaubt an Astrologie und bewundert den grandiosen Pimmel ihres Neffen Luke. Manchmal nähert sie sich in ihrer grellen Dümmlichkeit Martina Hills Rolle als Influencerin Larissa in der ZDF-Heute-Show. Das Schwestern-Duell Alice vs. Jenny erinnert außerdem fatal an Michel Houellebecqs provokanten Kult-Roman mit dem hier passenden Titel "Elementarteilchen", wo allerdings die beiden Brüder Bruno und Michel ihren Privatkrieg inszenieren.
Die multiple Zimmerschlacht wird vervollständigt durch Karen, die Mutter der beiden Schwestern (ebenfalls beeindruckend: Annette Büschelberger). Einst war sie gefeierte Wissenschaftlerin, nun muss sie sich mit Inkontinenz und beginnender Demenz auseinandersetzen. In einem berührenden Monolog erläutert sie ihre These, dass Liebe nicht die entscheidende Kraft im Uni-versum ist, eher glaubt sie da schon an die Schwerkraft oder den Sekundenkleber. Liebe hat der Mensch nur erfunden, um das Chaos zu überwinden!
Live Aid oder Leifheit?
Als Vertreter der möglicherweise letzten Generation tummeln sich Alices Sohn Luke (Nicolas Frederik Djuren) und seine Freundin Natalie (Elina Schkolnik) auf dem Schlachtfeld der Individuen. Die beiden befürchten, dass die Apokalypse nur noch durch Massen-Sterilisation abgewendet werden kann und beschränken sich folgerichtig auf Distanz-Sex mit Whats-App-Bildern. Erstaunlicherweise mischt sich auch noch Thomas Nunner als belebtes Higgs-Teilchen in die Familien-Streitigkeiten: Einmal träumt er im Toni-Erdmann-Kostüm vom zweiten Big Bang und von der Entstehung eines neuen, klügeren Universums, an anderer Stelle erläutert er als Reinigungs-Fachkraft die fünf Varianten eines möglichen Weltuntergangs: Live Aid oder Leifheit?
Im abgedunkelten Forschungszentrum
Das ganze sehr ambitionierte Themen-Panorama wird von der Autorin und Drehbuch-Expertin Kirkwood immer wieder durch präzise Dialoge geerdet und in einen meist schlüssigen - teilweise sogar spannenden - Handlungsrahmen gepackt. Regisseurin Bérénice Hebestreit kann sich auf die stimmige Textvorlage und auf das kommunikationsstarke Ensemble verlassen und mit zielstrebigem Tempo und gezielten Black-Outs Akzente setzen. Die Bühne von Mira König zeigt im Vordergrund mit sehr beschränktem Mobiliar die Wohnung der Familie, hinter einem durchsichtigen Vorhang, der auch als Video-Leinwand dient, befindet sich die Stahl-Architektur des abgedunkelten Forschungszentrums.
Der Antagonismus von Wissenschaftsgläubigkeit und schreiender Dummheit, von naivem Optimismus und zynischem Bekenntnis zum Chaos beweist an diesem Theaterabend seine ungebrochene Aktualität. Und der etwas rätselhafte Titel "Moskitos" bekommt durch häufige Brummtöne eine immerhin angedeutete Erklärung.
Moskitos
Von Lucy Kirkwood
Deutsch von Corinna Brocher
Regie: Bérénice Hebestreit, Bühne: Mira König, Kostüme: Annelies Vanlaere, Musik: Gilbert Handler, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Stephanie Leue, Julia Bartolome, Thomas Nunner, Nicolas Frederick Djuren, Elina Schkolnik, Annette Büschelberger, Amadeus Köhli.
Premiere am 25. März 2023
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
Kritikenrundschau
Noch sei unklar, ob aus "Moskitos" ein "nachhaltiger Klassiker" werde, so Roland H. Dippel im Donaukurier (27.3.2023), aber das Stück tauge "als Unterrichts- und Prüfungsstoff gut" und "die fast drei Stunden Spieldauer" gerieten "kurzweilig". Und das, ob das das Ensemble mehr herumstehe, "als dass es die österreichische Regisseurin Bérénice Hebenstreit zu psychologischer Verdichtung anhält". Dennoch wirkten die Schauspieler:innen "auf Mira Königs nüchterner Bühne (...) noch bei höchsten menschlichen Erhitzungen glasklar". Das Stück zeige sich in dieser Inszenierung als "profanes Requiem über die Suche nach dem Sinn", wenn auch die theatralen Mittel "boulevardesk und burlesk" seien.
Die "pralle Geschichte" wirke auf den ersten Blick "wie am Reißbrett entworfen, die Protagonisten scheinen absichtsvoll kalkuliert und liegen mitunter nah am Klischee", konstatiert Birgit Nüchterlein in den Nürnberger Nachrichten (27.3.2023). Doch man dürfe das Stück nicht unterschätzen: "Die Dialoge sitzen auf den Punkt, haben Sarkasmus und blitzenden Witz." Hebestreit forme sie zu einem über "lange Strecken kurzweiligen und lebhaften Episodenstück", das spannungstechnisch erst gegen Ende etwas nachlasse. Angetan ist die Kritikerin zudem von den Darsteler:innen, die sich "mit Verve und teils vollem Körpereinsatz in ihre Rollen" werfen.
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