Take the Villa and Run! - Staatstheater Nürnberg
Dieser Chor kann sowas wie Jesus sein
von Dieter Stoll
Nürnberg, 30. Oktober 2020. Es ist Tag 2 nach dem Nürnberger Kulturhauptstadt-Schock. Auf der Bühne des Schauspielhauses rennen die jungen Frauen eines 14-köpfigen Sprechchors, der extra für René Polleschs Uraufführung "Take the Villa and Run!" gegründet wurde, wohlgeordnet kreuz und quer und rundherum durch den Raum. Erst jungfräulich weiß mit Rüschen, später knallbunt mit Cowboyhüten im Nacken. Bei genauem Hinhören kann man sogar die Munitionsgürtel klappern hören.
Besetztes oder besessenes Haus
"Ein besetztes oder besessenes Haus", mutmaßte es schon aus dem Programmheft. Beim Denken, so wird wenig später einer der Protagonisten über die Rampe predigen, muss man immer "eine Alternative im Kopf haben". Derweil hat das Publikum, abgezählte 50 Personen nach geltend dunkelroter Corona-Regel, die Lektüre der Besetzungsliste samt der dort genannten Koproduktions-Partner verarbeitet: "Bewerbungsbüro Kulturhauptstadt N2025". Am Mittwoch war die fast sicher geglaubte Nominierung für den Europa-Titel des Jahres 2025 per Jury-Votum an Nürnberg vorbei nach Chemnitz gereicht worden (wie schon 1999, damals gab Weimar den Franken das Nachsehen), und nun muss das städtische Bewerbungsbüro beiläufig die bevorstehende amtliche Abwicklung feiern. Immerhin: Es wurde schon wieder gelacht.
Nein, der deutsche Arbeiter, der sich neuerlich um die Enteignung seiner Villa im Tessin durch die SPD sorgen müsste, hat keinerlei Anlass zu Warnstreikbereitschaftsdienst. Plakat-Politologe Klaus Staeck, der 1972 mit dem inzwischen altehrwürdigen Architektur-Poster zur Bundestagswahl die Angst-Propaganda der Konservativen parodierte, hat das für Nürnberg entwickelte Stück von René Pollesch nicht mal andeutungsweise inspiriert. Schade eigentlich!
Es lebe das Einzelteil
Hier wird das Original eines einst spielerisch auf Legendenbildung angelegten Designer-Entwurfs genutzt, genauer gesagt dessen Vor- und Abbild (Ausstatterin Nina von Mechow baute die wirtschaftswunderliche "Villa im Tessin" raffiniert papprealistisch hin), das im Modellbaukasten in 106 Einzelteilen und mit genügend Vorrat an Plastikkleber auf massenhafte Reproduzierung zielte. Was einerseits die Menge der jetzt funkenden szenischen Einfälle ziemlich deutlich überschreitet, im Klebstoff jedoch den verlorenen Bruder der Dramaturgie herzlich begrüßt. Auch das Theaterstück von 2020 lebt und klebt aus Einzelteilen.
Kompliziert? Ach was, so einfach macht es uns René Pollesch nicht, denn zu Beginn der Aufführung ist die Bühne überraschend leer, besagte Modell-Villa wurde geklaut. Doch wenn "der Chor" meint, damit durchzukommen, dann irrt er sich erneut gewaltig. Sobald die Bauteile unter tosendem Soundtrack andächtig ausführlich zu voller Pracht montiert sind, bietet, um nicht zu sagen: biedert sich das zweistöckige Monstrum als Zwischenlager für Assoziations-Material und angeschlossene Gedankensprungschanzen an.
Mit starken Behaptungen munitioniert
Worum es geht, ist bei Pollesch die falsche Frage: Titel frei nach Woody Allen, Kulisse frei nach Märklin, Stück sowieso unabhängig. Auch diesmal spielt der ergebnisoffen mit dem Ensemble arbeitende Autor/Regisseur Gedanken-Billard über Bande, lässt ein Quartett über Gott und die Welt philosophieren, versenkt Erkenntnisse, ehe sie zu leicht greifbar werden: "Ja, der Marxismus." Beschimpfungsorgien werden als Reinigungstherapie beschworen, die Existenz der Super-Illu gegen das Leben eines Baums aufgerechnet.
Anekdoten-Veredlung, eine Spezialität des Hauses Pollesch, ist unvermeidlich. Hier ein Bayreuther Festspiel-Trauma, dort das Unbehagen am Theater-Mantra der "Fragen, Fragen, Fragen", wo es doch auch "Antworten, Antworten, Antworten" gibt, und dabei bloß nicht das "Paralleluniversum" vergessen oder die Dialektik. Oft gluckst es im Publikum, manchmal tut sich gar nichts. Für seine erste Arbeit in Nürnberg hat René Pollesch zur Absicherung den kampferprobten Franz Beil von der Berliner Volksbühne mitgebracht, der mit großen Zappel-Gesten und trockenem Witz den schrägen Ton vorgibt.
Drei trittsichere einheimische Komödianten (Julia Bartolome, Süheyla Ünlü und Yascha Finn Nolting) können mithalten, aber die riskanteren Charakter-Detonationen, die das Pollesch-Universum über die Komik hinaus unheimlich machen können, waren in drei Wochen Probenzeit wohl nicht zu bewältigen.
Nichtfestzunageln
Der Hauptdarsteller "Chor", von Pollesch-Spielerin Christine Groß trainiert, die Einar Schleef elegant mit Sibylle Berg unterwandert, behauptet sich im Zentrum. Indem er das Absurde ratifiziert (das ganze Kollektiv führt einen einzelnen Herrn durchs Museum, nicht umgekehrt), die Sprache herausfordert (scharfes Skandieren kippt ins chaotische Gemurmel), zum Playback-Karaoke in sanfte Trance niedersinkt und das vierzehnfach aufgesplitterte Objekt einer verlorenen Liebe darstellt. Ob dieser Chor, fragt einer verzückt auf der Bühne, vielleicht "sowas wie Jesus" sein könnte, und wird sogleich vom prinzipiell geforderten ultimativen Gegen-Gedanken überrannt: "Aber wie nagelt man den an ein Kreuz?"
Am Ende wird die Villa wieder abgebaut und Theaterschnee rieselt dekorativ ins Nichts. Der Regisseur hat ja "pralles Theater" versprochen. Die Aufführung, die in nur 85 Minuten neben ihrer juxenden Vitalität auch Oasen gepflegter Langeweile unterbrachte, macht für den Heimweg munter. Über die Schauspielerin, die von sich behauptet, "höchstpersönlich der dialektische Materialismus" zu sein, muss man einfach nochmal in aller U-Bahn-Ruhe nachdenken.
Take the Villa and Run!
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne und Kostüme: Nina von Mechow, Künstlerische Leiterin des Chors: Christine Groß, Licht: Kai Luczak, Dramaturgie: Fabian Schmidtlein
Mit: Julia Bartolome, Süheyla Ünlü, Franz Beil, Yascha Finn Nolting und einem Sprechchor (Lydia Makeba Sell, Justina Rötsch, Usha Bradley, Svenja Plannerer, Assumpta Munsi, Eva-Maria Kallnischkies, Liane Mair, Ann-Sophie Redel, Antonia Siems, Anastasia Yurovsky, Benigna Munsi, Marie Schaumann).
Premiere am 30. Oktober 2020
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
Kritikenrundschau
"Ein großartiger Abend", jubelt Jörn Florian Fuchs vom Deutschlandfunk (1.11.2020). Polleschs große Assoziationsmaschine komme auf eine sehr humorvolle und kluge Art und Weise zur Geltung. "Das ist ein Stück, das Biss hat." Die Sensation des Abends sei der Chor.
"Kunst und Leben, Leben und Tod, ach, wie uns das alles überfordert! So dass man, wie Woody Allen, eigentlich nur in Form von Witzen reagieren kann. Das macht den Abend, eineinhalb Stunden lang, so unterhaltsam“, schreibt Wolf Ebersberger in den Nürnberger Nachrichten (2.11.2020). Das alles sei ein Programm gegen Theater als Form von Realismus und Repräsentation. "Dialektisch muss es sein, wie bei Brecht, sichtbar in all seinen Möglichkeiten. Kunst ist Villa ist Modell – aber wie kriegt man es als Schauspieler hin, gleichzeitig nach vorne links zu gehen, aber auch an hinten rechts zu denken? Vielleicht hat die Welt gerade andere Sorgen, nun ja. Hier könnte man sie immerhin kurz vergessen – wenn das Stück nun nicht gleich wieder, wie der Rest des Theaters, in die Corona-Pause wandern würde."
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