FatzerBraz - die Berliner Performance-Truppe andcompany&Co befragt (vorerst in Sao Paulo) Brecht mit brasilianischen Mitteln
Wer frisst wen?
von Michael Laages
Sao Paulo, 5. August 2010. Das ist ja immer noch ein Abenteuer für sich – wenn ein deutsches Theater-Ensemble, eines zumal aus der freien Szene, die neue, aktuelle Produktion weit weg von zu Hause zur Premiere bringt; und auch nicht etwa bei einem der bekannteren europäischen Festivals, sondern gleich in Brasilien. andcompany&Co, mit halbwegs festem Arbeitswohnsitz am Berliner Theater Hebbel am Ufer zu Hause, zeigt in Sao Paulo "FatzerBraz", eine durch und durch brasilianisierte Fassung von Bertolt Brechts Bühnenfragment über den "Untergang des Egoisten Johann Fatzer", entstanden zwischen 1926 und 1930.
Gerade hatte sich ja ein internationaler Jugendworkshop in Mülheim als Teil des Programms der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 mit dem Text beschäftigt; Anfang November kommt dann auch die brasilianisch-deutsche Fassung nach Mülheim, wo Brechts Stück spielt. In Brasilien ist Brechts Revolution vor allem bunt, und sie atmet Trash. Che Guevara und Ulrike Meinhof, Brasiliens historische Schlager-Muse Carmen Miranda, aber auch der Medien-Mogul Silvio Santos, eine Art Berlusconi à la Brasil heutzutage, tingeln und tändeln als Masken-Wesen durch den Eröffnungsreigen, und eine ulkige Version der legendären "Orfeu Negro"-Filmmusik von Luiz Bonfa dudelt dazu.
Erst kommt der Kannibalismus, dann die MoralZielstrebig ironisch nimmt die andcompany nichts weniger als die Weltgeschichte der Aufbrüche und Umstürze ins Visier, wenn sie den Fall Fatzer wieder aufrollt. Und damit eine der kompliziertesten, widersprüchlichsten, radikalsten und modernsten Geschichten im Fundus des Stückeschreibers Bert Brecht. Der ist Ende 20, als er die Fabel von vier Deserteuren zu entwerfen beginnt, die von den Schlachtfeldern vor Verdun zurück nach Deutschland flüchten und in der erstbesten größeren Stadt, eben in Mülheim an der Ruhr, unentdeckt zu überleben versuchen; erst in einem Panzer-Wrack, dann in einem Kellerloch.
Aber der Hunger quält; und erst kommt noch immer das Essen, dann die Revolution, auf die sie hoffen. Während die vier also theoretisch schon den Bürgerkrieg der Klassen an die Stelle des noch immer nicht beendeten Krieges der Staaten setzen, scheitert das Quartett der Herren Fatzer und Büsching, Kaumann und Koch an den Egoismen und Lüsten, wie sie dem alten Menschen bislang immer eigen waren. Ein neuer ist nicht in Sicht. Fatzer aber, der klügste und am wenigsten verlässliche, bittet die anderen zum Urteil über die eigenen Untaten – danach werden sie ihn, des blanken Überlebens wegen, womöglich verspeisen.
Immer schon etwas klüger
Alexander Karschnia, einer der ideologischen Köpfe der andcompany, hat in den Probenwochen viel von der brasilianischen "anthropophagia" gesprochen, der von der brasilianischen Moderne des 20. Jahrhunderts ausgerufenen antikolonialen Kulturtechnik der "Verspeisung des heiligen Feindes": das Fremde und Feindliche durch Aneignung quasi auffressen und verdauen, Überflüssiges ausscheiden und die kreative Energie des Gegners in eigene Kreativität transformieren. Das ist die Theorie. Aber natürlich fragt Oswald de Andrade, Begründer der "Anthropophagia", genau so wie Brecht im "Fatzer"-Fragment schon auch danach, wer da gerade wen verspeist.
Die Produktion, die beim Internationalen Festival in Sao Jose do Rio Preto voraufgeführt wurde und bis zum 8. August in Sao Paulo zu sehen ist, lässt das ziemlich offen. Und das ist gut so. Alles andere wäre Schlaumeierei. Und Karschnias Truppe will eh schon immer etwas klüger sein.
Sorgsam dosierter Remmidemmi-Ton
Sprachlich ist die Fatzer-und-Brecht-Show bunt gemischt, manchmal wird direkt in der Szene, manchmal auf Übertiteln übersetzt, hinüber und herüber und lustvoll durcheinander; im Spiel entwickelt sich derweil ein sorgsam dosierter Remmidemmi-Ton aus Kinderspiel- und Rummelplatz, in dem Brechts vorrevolutionäre Polit-Propaganda zugleich ganz ernst und sehr unernst genommen wird – die aufgekratzte Laienspiel-Spektakelei von Karschnia und Nicola Nord, Musiker Sascha Sulimma und Bühnen-Maler Jan Brokof schafft reichlich Distanz, während die Mistreiter aus insgesamt vier lokalen freien Gruppen aus Sao Paulo vor allem durch massive kämpferisch-spielerische Ernsthaftigkeit überzeugen.
Deutlicher als den deutschen Brecht-Forschern geht es ihnen um "etwas" mit diesem Revoluzzer von damals, und sei es um die gedankliche Alternative zum handelsüblichen Reformismus auch zu Hause in Brasilien; die Zahl der Hugo-Chavez- und Evo-Morales-Fans ist zuletzt ja auch und gerade im Lula-Land beträchtlich gestiegen.
Alles ist Bewegung, Tanz, Energie
Vor allem aber war schon in Sao Jose do Rio Preto und ist jetzt auch in Sao Paulo zu sehen, wie grundsätzlich anders der Text hier durch den Körper geht – mag Brechts "Fatzer" zunächst vor allem chronisch-chorische Kopfgeburt und Gedanken-Spiel bis an die äußersten Grenzen der Dialektik gewesen sein, so eignet sich brasilianisches Theater-Handwerk diese eher abstrakte Spielform zunächst mal ganz körperlich an. Alles ist Bewegung, Tanz, Energie. Die deutschen Ideenstifter wirken darin fast schon ein bisschen wie die ewigen Clowns: besonders angestrengt gerade da, wo sie ein bisschen komisch sein wollen.
Brecht allerdings, und vor allem dessen in späteren Stücken allzu oft unübersehbarer Musealität, bekommt dieser körperlich-musikalische, schrill geplusterte Mummenschanz ziemlich gut. Wenn das die "Brasilianisierung" ist, von der Karschnias Kompanie in den öffentlichen Diskussionen dieser Tage in Brasilien immer wieder spricht, auch in Anwesenheit des akademischen andcompany-Lehrers und dramaturgischen Beraters Hans-Thies Lehmann, wenn also "Brasilianisierung" in der Krise, auch der Brecht- und/oder Theater-Krise verstanden wird als wachsende Chance für neu gestellte Fragen angesichts unübersehbar ungelöster Grundsatzprobleme – dann kann nicht nur Brecht noch eine ganze Menge mehr Brasilien vertragen.
FatzerBraz
von andcompany&Co nach Bertolt Brecht
Fassung: andcompany&Co
Inszenierung und Dramaturgie: andcompany&co, Bühne: Jan Brokof und Joao Loureiro, Musik: Sascha Sulimma und Jorge Pena, Produktion: Anne Schulz, Matthias Pees, Ricardo Muniz (Interiorprod.com).
Mit: Manuela Afonso, Fernanda Azevedo, Jan Brokof, Alexander Karschnia, Nicola Nord, Jorge Pena, Mariana Senne, Sascha Sulimma.
www.andco.de
Mehr zu den Arbeiten von andcompany&Co? In West in Peace verschnitten sie im Dezember 2009 Karl May mit Karl Marx. Im Juni 2009 stellten sie zusammen mit dem Jungen Schauspiel Hannover das Projekt City Circus Zero Work auf die Bühne.
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vom 27.10. - 30.10.2010 ist das Stück übrigens im HAU 3 in Berlin zu sehen.
(Lieber Stefan,
ist gemacht. Und auf das Gastspiel in Berlin werden wir gesondert verweisen.
Beste Grüße
Die Redaktion)