33 Variationen - In Moisés Kaufmans Broadway-Drama obliegt die große Rosel Zech dem Fanfaren-Ton
Das Geräusch gewordene Als-Ob
von Nikolaus Merck
Berlin, 24. Januar 2010. Großer Prominenten-Auflauf im Holzgetäfelten am Reuter-Platz. Der Regiermeister Wowereit ist da, diverse Fernseh-Zelebritäten, Vorabend und Hauptprogramm, mit bleckendem Gebiss und ohne. Die Lise möchte gleich wieder nach Hause. Aber vor die Rückkehr in die warme Höhle – schon der Gang über die Straße lässt im tiefgekühlten Berlin Mark und Bein erfrieren – sind im intarsienverzierten Renaissance Theater 33 Variationen über die Schauspielkunst gesetzt.
Der Höhepunkt dieser 33 Variationen auf einem Ton ist erreicht, wenn sich Ralph Morgenstern als Musikverleger Diabelli dem tauben Beethoven mit Gebärdensprache verständlich zu machen versucht. "Ihre Genesung" ist großes Hasenohr mit Wackelhand und "Manuskript übergeben" ist vom Mund her weit ausholendes Rauspladdern mit beiden Händen. Das ist kein Klamauk mehr, für den der Comedian Morgenstern gerade stehen könnte, das ist übelste Provinz, 1991 beim Schlagerabend in Schwerin trieben wir solche Gaudi. Aber 2010 in Berlin? Mon, Herrschaftszeiten!
Und so geht das fort. Robert Gallinowski spielt, Perücke auf, Perücke ab, abwechselnd Maestro Beethoven und dessen Sekretär Schindler, er schnarrt und kratzt mit der Stimme; mal heiser, mal knarzig, mal mit fettem Bonner Organ gibt er dem Affen derart Zucker, dass man hinterher mit der Zahnarztlampe die neuen Löcher im Gebiss zählen kann.
Aber – worum geht es?
Moisés Kaufman, Chef des Tectonic Theatre Project und Regisseur des Pulitzer-Preis-gekrönten Broadway-Dramas "I am my own wife" über das Leben der Charlotte von Mahlsdorf, hat ein Stück namens "33 Variationen" geschrieben. Es handelt von den letzten Lebensmonaten der Musikwissenschaftlerin Dr. Katherine Brandt, die über die Entstehung von Beethovens Diabelli-Variationen forscht und ein Problem mit ihrer Tochter Clara hat und außerdem ALS, eine tödliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems. Und Torsten Fischer, Ende der 80er Jahre Oberspielleiter am Kölner Schauspiel unter Intendant Jürgen Flimm, inszeniert.
Kaufmans Stück, in dem Jane Fonda, nach 46 Jahren zurückgekehrt nach New York, im letzten Frühjahr die Hauptrolle spielte und das fast den Tony für die beste Broadway-Produktion gewonnen hätte, spielt auf zwei Ebenen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Verleger Diabelli die famose Idee hatte, die wichtigen Komponisten seiner Zeit einzuladen, Variationen über einen von ihm verfassten Walzer vorzulegen, die er in einem Sammelband publizieren würde. Und der ebenfalls gebetene Beethoven überraschend Interesse an dem Walzer Diabellis nahm und 33 Variationen darüber verfasste, so viel wie seit den Goldberg-Variationen keinem Komponisten mehr zu einem Thema eingefallen waren. Und zum andern in der, nun ja, Gegenwart, in der Katherine Brandt im Bonner Beethoven-Archiv nach Gründen sucht für Beethovens ungewöhnliches Engagement in Sachen Diabelli.
Der biographiebekannte Kotzbrocken
So kommt es, dass Gegenwart und postnapoleonisches Zeitalter auf einer Bühne zusammenrücken. Die zeigt einen Tisch und Regale mit Manuskriptblättern von Ludwig van, den Diabelli Luigi nennt. Links und rechts an der Seite gibt es hohe Türen, zwischen denen Beethoven als der biographiebekannte Kotzbrocken auf und ab tobt, während Rosel Zech über die Entstehung der Diabelli-Variationen sinniert. Weiters verliebt sich Zechs alias Dr. Brandts Tochter Clara in einen farbigen Krankenpfleger, und Schindler und Diabelli feilschen um Publikationsdaten und -bedingungen der sich immer wieder verzögernden Komposition.
Das ist alles hübsch und man lernt etwas über die Klaviermusik, die zwischen den Szenen von SooJin Anjou am Flügel vor der Bühne vorgetragen wird. Die einzigen erholsamen Momente des Abends. Ansonsten herrscht ein antiquierter Theaterton, der beim Rezensenten und der Lise erst Verwunderung, dann Befremden und schließlich helles Entsetzen auslöst. Nicht jedoch bei der Mehrheit des Publikums, die mit Szenenapplaus nicht geizt.
Was uns bevorstehen könnte
Der eigentliche Schrecken der Veranstaltung liegt darin, dass selbst die große Rosel Zech, ehedem Zadek- und Fassbinder-Protagonistin, dem ich-weiß-nicht-soll-ich's-wagen-Schiller-Fanfaren-Ton obliegt. Ein Herausrufen, über die Köpfe des Publikums hinweg, am Partner vorbei, ein Ton, der sich nicht schert um irgendwelche Authentizität und andererseits genauso wenig in konsequenter Stilisierung sein Heil sucht – ein Ton, der einfach das Geräusch gewordene Als-ob darstellt, mit dem sich Schauspieler vor Zadek und Castorf vor dem Ins-Spiel-Bringen der eigenen Person und vor jeder Art Gefährdung, sei es des Publikums, sei es des spielenden Selbst, retteten.
So gibt es nur den einen lohnenden Moment, wenn Dr. Brandts Zunge dem Funkfeuer des Gehirns nicht mehr gehorcht und die Frau im Rollstuhl nurmehr schwer lallend sich verständlich machen kann. Da zeigt die Bühne uns und den zahlreichen betagteren Zuschauern, was ihnen bevor stehen könnte, und auch Rosel Zech scheut keine Hässlichkeit. Aber, ehrlich – für einen ganzen Theaterabend ist das einfach viel zu wenig.
33 Variationen
von Moisés Kaufman
Deutsch von Bastian Häfner und Boris Priebe
Regie: Torsten Fischer, Bühne: Vasilis Triantafilllopoulos, Kostüme: Andreas Janczyk, Musikalische Leitung : SooJin Anjou.
Mit: Rosel Zech, Robert Gallinowski, Simon Zigah, Ralph Morgenstern, Anna Franziska Srna und SooJin Anjou am Flügel.
www.renaissance-theater.de
Am Renaissance Theater Berlin besprach nachtkritik.de zuletzt Frohe Feste von Alan Ayckbourn mit Julia Stemberger, David Bennent und vielen anderen Stars.
Kritikenrundschau
"Ja, genau", sagt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (26.1.) angesichts dieser "33 Variationen", "so hatten wir uns den guten alten Ludwig van immer vorgestellt". Mit "Haaren wie ein ungemachtes Bett" und "hochfahrenden Gesten" spiele Robert Gallinowski "den Maestro wie eine gedopte Lebendversion von Joseph Karl Stielers Gemälde 'Portrait Beethovens mit der Partitur zur Missa Solemnis'" – "eine Genie-Nummer an der Grenze zur Parodie". Der Regisseur und "Routinier" Torsten Fischer suche "sein Heil überwiegend in texttreuer Partitur-Bebilderung". Die "große Zadek- und Fassbinder-Darstellerin" Rosel Zech gebe die ehrgeizgetriebene Musikwissenschaftlerin, die irgendwann "lallend im Rollstuhl sitzt", während sie der Komponist höchstselbst zum Tanze auffordert – "ein Todesfantasienkitsch, dem Zech mit der geballten Unerschütterlichkeit der echten Grande Dame begegnet". Immerhin "schöne Momente", wenn SooJin Anjou aus Beethovens 33 Diabelli-Variationen spiele. Und das "interessanteste Motiv" entfalte der Abend "eher nebenbei". Wenn Gallinowski – ohne Perücke – die Zweitrolle des Beethoven-Sekretärs übernehme, sei das "plötzlich sehr konzentriert, sehr undurchdringlich" und würde "die Tragik derer spürbar, die des Künstlers Nähe suchen und sich mit einem Leben als Satellit begnügen".
Ulrike Borowczyk (Berliner Morgenpost, 27.1.) hat "eine Tragikomödie mit vielen witzigen Momenten gelungen, die zum Ende hin sehr berührt". Das sei "vor allem ein Verdienst des überragenden Schauspiel-Ensembles". Dabei sei "der Kraftakt, mit dem die beiden Zeitebenen und die einzelnen Handlungsstränge auf, vor, hinter und über der Bühne miteinander verbunden werden, ist manches Mal deutlich zu spüren". Das "Spiel selbst" aber bleibe immer "mühelos". Und es sei zwar "nah an der Klamotte, aber auch ungemein komisch", wenn Anton Schindler zum Beispiel "hinter den Vorhang huscht, die wildmähnige Komponisten-Perücke lüpft und kahlköpfig als diplomatischer Schindler wieder hervorkommt".
Die S Normal 0 0 1 170 973 8 1 1194 11.1282 0 21 0 0 tory wirke "wenig überzeugend", befindet Tim Caspar Boehme in der taz-Berlin (29.1.). "Aber zum Glück ist da noch die Musik." "Beethovens letztes großes Klavierwerk" sei ja "nicht gerade der Stoff, aus dem Broadway-Produktionen gemacht werden", das Kaufman-Stück sei allerding "genau das". Rosel Zech verleihe der Beethoven-versessenen Todkranken "ein plausibel zupackendes Format". Dass die Geschichte nicht "rund" werde, sei "ganz bestimmt nicht ihre Schuld". In dieses "bürgerliche Bildungstheater musikgeschichtlicher Ausrichtung" passe die unglückliche Mutter-Kind-Beziehung "wie ein Tuningspoiler an einen Oldtimer". Überhaupt habe Kaufmann da ziemlich "grobes Zeug gestrickt", das einem die Zeit im Renaissance-Theaters "irgendwann lang werden lässt". Der "eigentliche Star des Stücks" sei die Pianistin Soo-Jin Anjou. "Ihr zurückhaltender Part hat nicht nur den interessantesten Text – Beethovens Noten nämlich –, sondern gibt dem ganzen Schauspiel-als-Bildungsveranstaltung-Konzept erst Sinn." Bei ihr meine man "zu hören, wie die Musik in Beethovens Kopf entstand".
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Hat Ihnen mal jemand gesagt, persönliche Beleidigungen auf Dieter-Bohlen-Niveau würden in Diskussionen einen guten Eindruck machen? Dann hat man Sie leider belogen.
Natürlich sind Renaissance und BE vergleichbar. Ich kann auch das Thalia mit dem St. Pauli Theater vergleichen oder Äpfel mit Birnen. Was Sie wahrscheinlich meinen, ist, dass es Blasphemie sei, das Haus des heiligen Claus (schöner, wenn auch unbeabsichtigter Binnenreim) auf eine Stufe mit dem Renaissance-Theater zu stellen. (Es ist auch immer wieder interessant, wie die leiseste Kritik am BE hier zu Reaktionen führt, deren sprachliche Aggressivität man nur von Al-Qaeda-Statements oder einigen Radio-Takshow-Moderatoren aus den Südstaaten der USA kennt). Wer sich aber unvoreingenemmen mal in den letzten Jahren ins BE begeben hat, wird bestätigen, dass einfallsloses, konservatives, aber handwerklich gut gemachtes Unterhaltungstheater mit das Beste ist, was man an diesem Haus sehen kann. Eine Inszenierung wie Steins Zerbrochener Krug würde ich eher am Renaissance erwarten, Peymanns eigene Inszenierungen erwähne ich lieber nicht. Ich habe schon an anderer Stelle gesagt: Es gibt in Berlin Raum - und ein Publikum - für ein Theater, wie es das BE macht. Nur dann sollte man auch zu dem stehen, was man macht und nicht so tun, als wäre es die die große Theaterkunst.
Und das mit den 300 Vorstellungen im "Theater im Palast" könnte schwierig werden. Das wurde nämlich 1990 geschlossen.
Ach ja, ich dusche in der Regel warm. Sie nicht?
Lieber Prospero,
sehr ehrenwert, dass Sie sich um die Diskussionsführung bekümmern. Wir werden Ihren und auch den vorangegangenen Kommentar ins Forum zu Steins "Zerbrochnen Krug" kopieren, damit sie (auch) dort weitergeführt werden kann.
Mit besten Grüßen,
Anne Peter / Redaktion
Im Renaisssance-Theater, mein ich.
Ich finde das Stück sehr eigenwillig und habe ehrlich gesagt erwartet, dass mich ödes Belehrungs- und Erbauunhstheater erwartet.
Ich wurde ausgesprochen angenehm enttäuscht.
Nein, der "Krug" von Stein ist wirklich kein gutes Beispiel, um dem entgegen zu wirken. Das war wirklich nicht gut. Und zwar, weil die Inszenierung ihren eigenen (oder seinen) Maßstäben nicht gerecht wird.
Historische Kostüme wählen, und sich dann in der Zeit vergreifen, den Text hochhalten wollen, aber den Vers zerstören und Detail für Detail kaputt-aktualisieren (Physikus? Das versteht doch keiner. Da machen wir den Arzt draus - dann sind wir auch den blöden Vers los), das macht Stein mit Kleist.
Das nachtkritik.de sich auch ins Renaissance-Theater wagt, finde ich ausgesprochen gut. Getraue mich da selbst kaum hin...
Und daß Torsten Fischer eher altbacken inszeniert, sollte einen Kritiker nicht überraschen, das macht der schon lange. Nicht nur im Renaissance-Theater.
G. McLean, Berkeley CA