Die Offenbarung des Ralf - Das neue Stück von Kai Hensel in Celle uraufgeführt
Lebenslügen, prä- und postmortal
von Stephanie Drees
Celle, 5. April 2013. Die personifizierte Rache trägt Weiß. Über ihrer Brust verläuft ein Plastikpanzer. Mit dem Engel Svea stimmt etwas gewaltig nicht. Zu fokussiert der Blick, zu geschliffen die Rhetorik. Ralf, ihr vorgeblicher Schützling, spürt recht bald, dass an der ganzen Nummer etwas faul ist. Doch wenn man viel Zeit damit verbracht hat, sich die eigene Rolle schön zu spielen, hievt einen der Selbstbetrug noch eine Zeit lang über die Lebensabgründe – die eigenen und die der anderen.
Machiavelli für Klammerbeutel-Gepuderte
Der Theater-, Film- und Romanautor Kai Hensel ist ausgewiesener Experte in Sachen Abgründeforschung. In "Klamms Krieg", einem preisgekrönten Jugendstück, das auf deutschen Bühnen rauf- und runtergespielt wurde, reibt sich ein Lehrer im Seelenfresser Klassenzimmer auf. In "Welche Droge passt zu mir?" ist es eine adrette Hausfrau, die für Aufheiterung und Effizienzsteigerung im Familienleben diverse Substanzen benutzt. Beide Stücke sind Monologe, in ihren Brüchen und Leerstellen sammelt sich eine Spannung, die den Text trägt. Es ist interessant, wie sich auch in "Die Offenbarung des Ralf", einem Stück, das am Celler Schlosstheater uraufgeführt wurde, jene Momente zu Wahnsinnskaleidoskopen formen, in denen die Hauptfigur ihr Manifest verliest.
Dem Regisseur Benjamin Westhoff aber geht es an diesem Abend vor allem um Dialogschlachten. Den Gleichnischarakter des Stücks tritt er großzügig platt. Er übertüncht dabei an vielen Stellen, wie viel Tragik in diesem Text liegt, der ebenfalls das Potential zu mehr gehabt hätte, als er am Ende vermittelt.
Die Ralf-Figur beweist das. In seiner Anlage scheint der Anzug tragende Möchtegern-Gewinner ein einfach strukturiertes Exemplar seiner Zeit zu sein: Der neoliberalen Welt schmeichelt er mit auswendig gelernten Sprüchen aus dem Machiavelli für Klammerbeutel-Gepuderte ("Risiko ist der Rammbock des Erfolgs!"). Einst ein erfolgreicher Unternehmer, leitet er nun bei der Arbeitsagentur Existenzgründerseminare für andere Wirtschaftskrisenopfer. Er ist verschuldet, seine Ehe ist im Orkus des Zweckoptimismus versunken. Ab und an geht er mit seinem schmierigen Freund und Hausarzt Golf spielen, da lochen die beiden sportlich wie rhetorisch ein.
Auswüchse des Verwertungsterrors
Auf der Celler Bühne stehen Fernseher, über deren Mattscheiben Werbefilme für Ralfs Lehrstunden flimmern. Jörn Hentschel zieht diesen Ralf recht pointiert auf: Spannung im Körper, das ausladende Gestenrepertoire von diversen Politikerinszenierungen abgeguckt. Die Jeder-kann-es-schaffen-Lüge springt dem Mann praktisch aus den Augen. Er und seine Mitspieler turnen über eine kleine Landschaft aus Podesten, die in den Himmelsfarben einerseits für Aufstieg stehen, andererseits sehr diesseitige Hindernisse markieren.
Auf Bühnen und Leinwänden gab es gewiss schon einige von Ralfs Sorte. Und doch liegt in diesem Charakter eine eigentümliche Mischung aus Unberechenbarkeit und tiefer Tragik, die sich jenseits der Kälte von postmodernen Rächern bewegt. Svea, eine ehemalige Klientin, suchte einst mit einer bankrotten Tierpension seine Hilfe – vergebens. Anschließend warf sie sich vor ein Auto. Nun berät sie Ralf als ansehnliche Tote und vermeintlicher Engel in Sachen Selbstoptimierung.
Durch sie wird der Best Ager immer mehr zu einem urbanen Terroristen, der glaubt, ein Prophet zu sein und gegen die Auswüchse des Verwertungsterrors zu kämpfen. Er lässt sich zu einer Reihe von Aktionen anstiften, die immer gewalttätiger werden. Mit dem spirituellen Helferlein an der Seite vermöbelt er ein paar U-Bahn-Kontrolleure, "befreit" ein afrikanisches Geigenwunderkind aus den Fängen seiner dressierwütigen Förderer und beendet seine Familienmisere samt Geiselnahme blutig. Bis er wie Svea, die nichts als Rache üben wollte, sein Leben postmortal meistern muss.
Fantasie eines Kapitalismus-Road-Kills?
Es ist kein schlechter dramaturgischer Kniff, den Hensel sich hat einfallen lassen: Die Hauptfiguren tauschen die Rollen, der Berater wird zum Klienten. Und wo sonst Erlösung und Läuterung am Ende des Tunnels stehen, werden die Lebenslügen nach dem Tode neu aufgezogen. Regisseur Kai Westhoff aber vergibt die Chance, diese Facetten herauszuarbeiten. Zwischen wilder Körperlichkeit und lautem Gebrüll müssen die Schauspieler vor allem auf die Pointe der Geschichte hinarbeiten – und die ist durch das kraftvolle, aber auch arg verschlagene Spiel von Henrike Richters als Svea schon bald absehbar. Die anderen Schauspieler sind mehr oder weniger Staffage.
Die implizite Frage, ob Ralfs Erscheinung vielleicht nur die Fantasie eines Kapitalismus-Road-Kills ist, wird dem komödiantischen Miteinander geopfert. Das Stück ist der Gewinner einer Publikumswahl. Zuschauer konnten nach drei szenischen Lesungen entscheiden, welchen Text von Kai Hensel sie auf der Bühne sehen wollen. Die zeitgenössische Wirtschaftskomödie ist offenbar ein echter Renner. Immer noch.
Die Offenbarung des Ralf (UA)
von Kai Hensel
Regie: Benjamin Westhoff, Bühne und Kostüme: Christina Huener, Dramaturgie: Evangelos Tzavaras / Tobias Sosinka.
Mit: Jörn Hentschel, Henrike Richters, Uta Krüger, Thomas Wenzel.
Dauer: 1 Stunde, fünfzehn Minuten, keine Pause
www.schlosstheater-celle.de
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Kritikenrundschau
In der Celleschen Zeitung schreibt Jörg Worat (8.4.2013): Wie üblich bei Kai Hensel spiele die "Kombination von Gesellschaftskritik und individuellen Katastrophen" eine wichtige Rolle. Mit Sprache wisse der Autor "sehr gekonnt umzugehen", auch die Gratwanderung zwischen Tragödie und dem Hochkomischen kehre im neuen Stück wieder. Doch der Text käme nicht immer auf den Punkt. Genauso wenig wie die Inszenierung. Regisseur Benjamin Westhoff entfache zwar "eine Menge Budenzauber", doch würden die Etappen von Ralfs fortschreitender Geisteszerrüttung "nicht recht strukturiert" – so wirkten die Sätze seiner kruden "Offenbarung" irgendwann beliebig und verleiteten kaum noch zu Überlegungen, wie viel Wahrheit in diesem Irrsinn stecken mag. Der Abend leide unter mangelnder Textverständlichkeit, ansonsten sei "den Akteuren allerdings nichts vorzuwerfen".
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