Jessica, 30. - Mirko Böttcher bringt einen Stoff von Marlene Streeruwitz auf die Bühne des Schloßtheaters Celle
Gefängniswärterinnen der eigenen Gefangenschaft
von Stephanie Drees
Celle, 1. Februar 2013. Ein Text für Atemlose. Wallnusseis und Aufmacherstory, Fettpolster und Politik – es gibt viele Themen, über die Jessica nachdenkt. In Celle liegt sie mit weißem Leibchen und schwarzer Strumpfhose auf der Bühne, hält das Mikro phallisch in die Höhe und spricht. Ein postorgasmischer Bewusstseinstrom. Der Liebhaber ist grade fort gegangen. Doch die Fragen bleiben: Wie weitermachen? Wie das Leben ordnen? Wie den Körper vor der Fettsucht schützen?
Frust-, Figur- und Fresspointen
Mäandernd, ohne Rücksicht auf Satzanfänge und -enden, hetzt Jessica durch diesen Text, der sie schon im Titel wie eine humpelnde Galionsfigur ihrer Generation ausstellt: "Jessica, 30." heißt das Stück von Marlene Streeruwitz, eine der bekanntesten Autorinnen Österreichs. Streeruwitz gilt als aufmüpfig, stets politisch positioniert, das Feministinnen-Etikett auf der Stirn. Die Geschichte von Jessica erschien 2004 zuerst als Roman. Die Bühnenfassung des Stoffs wurde 2005 in Graz uraufgeführt. Am Schlosstheater Celle inszeniert der junge Regisseur Mirko Böttcher nun die deutsche Erstaufführung einer zweiten Fassung. Hier wird Jessicas Lebenstrip durch die Innenansichten ihrer Mutter Veronika flankiert.
Böttcher interessiert sich für theatrale Konfrontationstherapie, viele seiner Theaterprojekte drehen sich um gesellschaftliche Wunden. In "Jessica, 30.", geht er auf den ersten Blick einen vergnüglich-komödiantischen Weg. Zwei wandelnde Frauenbilder greifen da in die Vollen ihres wenig zufrieden stellenden Lebens – Charaktere, die zwischen Kämpfernatur und Karikatur pendeln. Es wäre leicht gewesen, sich auf die Frust-, Figur- und Fresspointen zu stürzen, die Autorin als intellektuelle Hera Lind zu verkaufen. Stattdessen kreiert der Regisseur aus dem Stück der Diskurs-Wüterin Streeruwitz ein eigenes Genre: die subversive Boulevardkomödie.
Frauen in der Ikea-Wüste
Das Private ist hier eindeutig politisch und im wahrsten Sinne greifbar. Ein weißes Podest steht in der Mitte der Turmbühne, einem kleinen Raum, in dem sich Schauspieler und Zuschauer sehr nah sind. Blickkontakt sorgt für mentale Reibung mit den Figuren. Spießig-schick ist die flache Bühnenkonstruktion aus der IKEA-Wüste, ein geeignetes Parkett für Anpassungsfetischistinnen.
Die minimalistische Bühne werden die Frauen im Laufe des Stücks immer weiter in ihre Versatzstücke zerlegen. In beiden Leben wird umgeräumt, Sicherheiten werden aufgegeben, Wahrheiten in Frage gestellt.
Böttcher konzentriert sich dabei konsequent auf seine beiden Schauspielerinnen Julia Malkowski und Katy Karrenbauer, die für das Ausfüllen ihrer Monologe nicht viel mehr haben als Körper und Stimme. Beide stürzen sich mit Verve in die Streeruwitz'sche Welt der künstlerischen Trivialität. Die Tochter versucht als freie Autorin eines Frauenmagazins und Geliebte eines hochrangigen Politikers das eigene Prekariatselend unter Kontrolle zu bekommen – anfangs noch gefangen in der Rolle der sexy Hexi. Die Mutter hat sich als Kind der Frauenbewegung längst auf ein Leben ohne Kerl eingestellt. Die bleiben nicht bei ihr, hat sie doch bei den Männern gelernt, dass sie keinen Mann brauchen darf. Beflissen legt sie Wäsche zusammen und betrauert vorsorglich ihr "letztes Mal".
Malkowski und Karrenbauer stellen die Brüche der Figuren, ihre Lächerlichkeit, ihre Abgründe und ihre Stellvertreterinnenrolle aus, ohne papierene Abziehbilder zu schaffen. Um dieses Changieren zwischen Einfühlung und Vorführen geht es – und die Demaskierung einer Sprache zwischen Frauenmagazinsduktus und Work-Life-Balance-Terror. Die Handlung des Ganzen: eher nebensächlich.
Schwer atmende Wut
"Ich habe einen unterentwickelten Sexdrive!", ruft Jessica verzweifelt, wenn sie sich in Schuluniform auf den Besuch ihres schmierigen Noch-Freunds vorbereitet. Investigativ will sie seine Machenschaften als Sadist und Freund von Orgien mit slowakischen Prostituierten offen legen und die Regierung stürzen. Wichtig ist aber nur die Wut, die das Vorzeigefrauchen plötzlich entwickelt. Sie erzürnt gemeinsam mit ihrer Mutter, obwohl sich die beiden im Stück nie begegnen. Auch Veronika will sich mit ihrer Abgeklärtheit nicht weiter abfinden und stapft als Berserkerin durch die Szenerie. "Frauen sind die Gefängniswärterinnen ihrer eigenen Gefangenschaft!", speit sie zorneslüstern heraus. Und macht in ihrer schwer atmenden Wut fast vergessen, dass sie das Thema Frauen und Knast jahrzehntelang auf RTL bearbeitet hat.
Die Rolle ist ein echter Glücksfall für Katy Karrenbauer, die hier zeigen darf, wie selbstsicher sie die Stimmungsklaviatur ihrer Figur beherrscht, wie glaubwürdig und gleichzeitig selbstironisch sie den Gegenpart zur mädchenhaften Julia Malkowski spielen kann.
Eine Inszenierung ohne Rollenopfer.
Jessica, 30.
von Marlene Streeruwitz
Regie: Mirko Böttcher, Bühne und Kostüme: Anja Kreher, Dramaturgie: Tobias Sosinka.
Mit: Julia Malkowski, Katy Karrenbauer.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.schlosstheater-celle.de
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Eine "beeindruckende Premiere" hat Hartmut Jakubowsky von der Celleschen Zeitung (4.2.2013) vor allem wegen der herausragenden schauspielerischen Leistungen erlebt. Die "angenehm zurückhaltende und sehr einfühlsame Regie von Mirko Böttcher" setzt „punktgenaue Akzente und platziert die Monologe der beiden Frauen aus unterschiedlichen Generationen in hautnahem Kontakt zum Publikum". Allerdings bleibt für den Kritiker die Frage offen, ob "der Abend dem Betrachter auch neue Erkenntnisse" bringe.
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